Richard Wolin: The Wind from the East. French Intellectuals, the Cultural Revolution, and the Legacy of the 1960s, 2nd ed., Princeton / Oxford: Princeton University Press 2012, XV + 391 S., ISBN 978-0-691-15434-3, GBP 16,95
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Die Ereignisse des Jahres 1968 werden in Deutschland kaum mit dem Maoismus assoziiert. Zu gering waren die Einflüsse der Ideen des chinesischen Kommunistenführers auf die Bewegung. Auch im "roten Jahrzehnt" [1] spielten die maoistischen K-Gruppen nur die Rolle exotischer Sektierer in der Bundesrepublik. Welchen Einfluss übte jedoch der Maoismus auf die Linke in Frankreich aus? Dieser Frage geht die 2010 erschienene Monografie von Richard Wolin nach. Wolin, der an der City University of New York lehrt und forscht, gilt als Experte auf dem Gebiet der Geistes- und Intellektuellengeschichte Westeuropas im 20. Jahrhundert.
Neben dem gesellschaftlich stark verankerten und anerkannten Parti Communiste Français (PCF), der in den ersten Nachkriegswahlen Frankreichs am 21. Oktober 1945 gar zur stärksten Partei in der französischen Nationalversammlung aufstieg und bis in die späten 1970er Jahre hinein vor dem Parti Socialiste die stärkste Partei der französischen Linken darstellte, wurde auch in Frankreich den Einflüssen des Maoismus (und des Trotzkismus) lange Zeit wenig Beachtung geschenkt. Erst in den letzten Jahren entwickelte sich, abseits der zeitgenössischen Literatur linker Verlage [2], eine Forschung zu diesen exotischeren Varianten des französischen Kommunismus. [3]
Wolins Werk verdeutlicht, dass der Maoismus in Frankreich eine deutlich größere Wirkung entfaltete als in den europäischen Nachbarstaaten. Auch in der Populärkultur hielt er Einzug, wie beispielsweise Jean-Luc Godards Film "La Chinoise" aus dem Jahre 1967 beweist. Ironischerweise sprach der Maoismus in Frankreich kaum einen der eigentlichen Adressaten von Maos Theorie an. Weder die Industriearbeiter noch die Bauern ließen sich in Massen vom Maoismus mitreißen. Erstere wählten weiter den PCF, wenn sie sich der Linken zugehörig fühlten, letztere blieben größtenteils im konservativen Lager und hielten bei Wahlen den (Neo-)Gaullisten die Treue. Lediglich an den Universitäten übte der Maoismus eine größere Faszination aus. Wolin macht überzeugend deutlich, dass es sich dabei weniger um eine politische denn um eine kulturelle Faszination gehandelt hat. Millionen von Hungertoten im Zuge des "Großen Sprungs nach vorne" und die Exzesse der chinesischen Kulturrevolution fanden auch bei der Mehrheit der französischen Studenten keine Sympathie. So wurde die Ereignisgeschichte weitestgehend ausgeblendet, während man Versatzstücke in Maos Biografie und Theorie herausgriff, die attraktiv wirkten. Der tatsächliche Kenntnisstand bezüglich der maoistischen Theorie und der Verhältnisse in der Volksrepublik China war gering. Der Maoismus in Frankreich war somit keine Übertragung der Theorien Mao Tse-Tungs auf die französischen Verhältnisse, sondern vielmehr eine Projektionsfläche von revolutionären Wünschen und Hoffnungen junger Menschen an der Universität.
Wolin hat sein Werk in zwei Teile gegliedert, wobei sich nur der zweite Teil schwerpunktmäßig dem Thema Maoismus in Frankreich widmet. Im ersten Teil beschreibt der Autor die Entwicklung hin zum Pariser Mai 1968. Zwar erhält der Leser in diesem Teil wenig neue Informationen, da der Forschungsstand zum Überthema "1968" in Frankreich qualitativ und quantitativ als sehr gut bezeichnet werden kann, die prägnante und gut geschriebene Zusammenfassung der Entwicklungen bildet jedoch eine hervorragende Einleitung für den zweiten Teil.
Dort handelt Richard Wolin den französischen Maoismus anhand zentraler Persönlichkeiten ab: Jean-Paul Sartre, Michel Foucault sowie die Zeitschrift "Tel Quel" um Philippe Sollers, Julia Kristeva, Jean-Pierre Faye und den bereits 1962 verstorbenen Jean-René Huguenin. Zu dieser Liste ist auch der in einem Exkurs am Ende des ersten Teils zurecht als "sectarian Maoist" bezeichnete Sonderfall Alain Badiou zu zählen.
Die jeweiligen Abschnitte sind gut recherchiert und lösen das Versprechen des Untertitels des Buches ein, den Einfluss des Maoismus anhand einer Geschichte französischer Intellektueller zu erklären. Dies geht allerdings, mit Ausnahme der "Union des Jeunesses Communistes Marxistes-Léninistes", zu Lasten der Darstellung des Einflusses maoistischer Gruppierungen wie beispielsweise der "Gauche Prolétarienne" (GP).
Interessant wäre die noch deutlichere Herausstellung der Haltung des französischen Staates gegenüber den Maoisten gewesen. Erst durch die teils radikale staatliche Ablehnung inklusive Organisations-, Publikations- und Versammlungsverboten sowie Verhaftungen prominenter Anhänger erreichte der Maoismus in den frühen 1970er Jahren eine bis dato ungekannte Massenwirkung in studentischen Kreisen. Den Höhepunkt der Auseinandersetzung mit dem Maoismus und seinen diversen Splittergruppen stellte die Ermordung von Pierre Overney, eines Anhängers der "Gauche Prolétarienne", durch den Werkspolizisten Jean-Antoine Tramoni während einer Demonstration vor dem Renault-Werk in Billancourt bei Paris am 25. Februar 1972 dar.[4] Im März 1977 wurde Tramoni als Vergeltung von der maoistischen Terrorgruppe "Noyaux armés pour l'autonomie populaire" ermordet. Den Sexualmord an dem 16jährigen Arbeiterkind Brigitte Dewèvre im Bergbauort Bruay-en-Artois (seit 1987 Bruay-la-Buissière) Anfang April 1972 aufgreifend, konnte die GP darüber hinaus eine in Frankreich viel beachtete, groß angelegte Initiative gegen die vermeintlich vorherrschende Klassenjustiz starten. Der Einsatz im Fall der "Affaire de Bruay-en-Artois" führte zwar zu einem Höhepunkt an medialer Aufmerksamkeit für die französischen Maoisten, markierte aber auch den Bruch mit einem Großteil der Studentenbewegung und auch mit Sartre, der sich für die Rechte des Individuums im Gerichtsprozess stark machte. Wolin schildert diesen zentralen Wendepunkt gleich am Anfang des Buches als "Showdown at Bruay-en-Artois" (25).
Auffallend ist, dass Wolin kaum Kritik an den Protagonisten des Maoismus in Frankreich übt. Seine Haltung bleibt durchgängig verständnisvoll. Die Verteidigung, ja teilweise Vergötterung, einer Person und seiner Lehre, die Millionen von Toten zu verantworten hat, mag zwar durch ein hohes Maß an Naivität bei zahlreichen Anhängern des französischen Maoismus erklärbar sein, hätte jedoch auch Worte der Kritik bedurft. Schließlich gab es andere zeitgenössische Theoretiker in Frankreich wie Raymond Aron, die nicht in diese linke Naivitätsfalle tappten.
Anmerkungen:
[1] Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967 - 1977, Frankfurt am Main 2002.
[2] Michèle Manceaux: Les Maos en France. Préface de Jean-Paul Sartre, Paris 1972.
[3] Guillaume Lanuque / Georges Ubbiali et al. (éds.): Prochinois et Maoïsme en France (et dans les Espaces francophones), Lormont 2010; Julian Bourg: From Revolution to Ethics. May 1968 and contemporary French Thought, Montreal, Ithaca 2007; Julian Bourg: The Red Guards of Paris. French Student Maoism of the 1960s, in: History of European Ideas, 31 (2005), S. 472-490; Christophe Bourseiller: Les Maoïstes. La folle Histoire des Gardes rouges français, Paris 1996. Eine Ausnahme bildet das bereits 1988 publizierte, vergleichend angelegte Werk: A. Belden Fields: Trotskyism and Maoism. Theory and Practice in France and the United States, New York 1988.
[4] Vgl. die zeitgenössische Darstellung in: Morgan Sportès: Ils ont tué Pierre Overney, Paris 1972.
Nikolas Dörr