Rezension über:

Martin Evans: Algeria. France's Undeclared War (= The Making of the Modern World), Oxford: Oxford University Press 2012, XXXV + 496 S., 40 s/w-Abb., 13 Karten, 1 Tabelle, ISBN 978-0-1928-0350-4, GBP 20,00
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Rezension von:
Anna Laiß
Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Anna Laiß: Rezension von: Martin Evans: Algeria. France's Undeclared War, Oxford: Oxford University Press 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 11 [15.11.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/11/21853.html


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Martin Evans: Algeria

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Der Algerienkrieg ist seit den 1990er Jahren Gegenstand zahlreicher historischer Analysen, die den Konflikt aus verschiedenen Blickwinkeln untersuchen. Allerdings muss festgehalten werden, dass sich die Forschung nach wie vor weitestgehend auf den französischsprachigen Raum konzentriert. Dies rechtfertigt bereits, dass Martin Evans ein weiteres Überblickswerk vorlegt. Evans widmete sich bereits in mehreren Veröffentlichungen der Geschichte Algeriens, nicht nur dem Algerienkrieg, sondern auch dem Bürgerkrieg in den 1990er Jahren. [1] Er sieht eine Verbindung zwischen beiden Konflikten und spricht in diesem Kontext von einem "unfinished war" (365). Die Folgen des Algerienkriegs, der zu einer außerordentlichen Eskalation der Gewalt führte, seien bis heute auf beiden Seiten des Mittelmeers spürbar, insbesondere in Algerien, wo das offizielle Gedenken an den Unabhängigkeitskrieg dem FLN noch immer als Herrschaftslegitimation diene (354-358).

Mit dieser andauernden Bedeutung des Konflikts begründet Evans selbst die Auseinandersetzung mit der Thematik. Ihm geht es vor allem um die Frage, aus welchen Gründen die Gewalt in Algerien in einem solchen Ausmaß eskalierte. Zur Beantwortung dieser Frage geht er zurück bis zum Beginn der französischen Präsenz in Algerien. Er unterteilt seine Studie in drei Teile und untersucht die Ursprünge (7-85), die Zuspitzung (85-261) und die Auflösung des Konflikts (261-339). Im Zentrum der Analyse steht der zweite Teil. Dabei setzt Evans den Beginn der Zuspitzung mit den Aufständen von Sétif und Guelma an. Mit dieser Aufteilung unterstreicht er die Besonderheit des Algerienkriegs als "undeclared war", der sich nicht durch einen klaren Anfangspunkt, sondern durch eine kontinuierliche Zunahme der Feindseligkeiten auszeichnete. Evans erklärt diese Zuspitzung des Konflikts anhand drei analytischer Leitlinien: der "long hatred", das heißt der Ablehnung der französischen Kolonialherrschaft durch die muslimische Bevölkerung, des "third way reformism" der sozialistischen Regierung, der aus einer Kombination aus Repression und Reformen bestand, sowie anhand des "modern Algerian nationalism" (xi-xii).

Anhand der analytischen Leitlinie der "long hatred" arbeitet Evans heraus, wie in Algerien eine auf ethnischer Segregation beruhende Gesellschaft geschaffen wurde. Obgleich in der republikanischen Rhetorik die "mission civilicatrice" propagiert wurde, blieb der muslimischen Bevölkerung der Zugang zu Staatsbürgerrechten weitestgehend verwehrt. Diese Rechte waren den europäischen Siedlern vorenthalten. Evans betont, dass die Beziehung zwischen den verschiedenen Gruppen vor allem durch Misstrauen und Feindseligkeiten geprägt war. Die Eroberung durch Christen sei von der überwiegend muslimischen Bevölkerung als Schmach empfunden worden. Daher sei die Invasion als Erbsünde tradiert worden, aus der - dieser Überlieferung folgend - alle nachfolgenden Übel wie Rassismus, religiöse Erniedrigung und Landenteignung resultierten. Auf der anderen Seite sieht Evans das Misstrauen der Siedler vor allem in deren Sicherheitsbedürfnis begründet. Aufgrund der zahlenmäßigen Überlegenheit der muslimischen Bevölkerung sei ihr Handeln stets danach ausgerichtet gewesen, ihre Privilegien zu schützen (16-24).

Durch diese Zielsetzung hätten die Siedler nicht nur in Opposition zur muslimischen Bevölkerung gestanden, sondern oftmals auch zu der französischen Regierung. Dies gewinnt im Kontext der analytischen Leitlinie des "third way reformism" an Bedeutung. Evans verweist auf die Kontinuität der Algerienpolitik der sozialistischen Partei SFIO von der Volksfront-Regierung bis hin zur Regierung Mollets. Die republikanische Rhetorik aller Regierungen habe einerseits die "mission civilicatrice" betont und Reformansätze vorgelegt, andererseits sei, auch auf Druck der europäischen Siedler, stets die Aufrechterhaltung der territorialen Integrität Frankreichs hervorgehoben worden, wodurch Repressionen gegen die algerische Nationalbewegung in den Vordergrund getreten wären. Evans stellt insbesondere die "pouvoirs spéciaux" von 1956 heraus, die für ihn diese Politik symbolisierten. Wurden mit Artikel 1-4 wirtschaftliche, soziale und administrative Reformen angestoßen, stattete Artikel 5 den Generalgouverneur Algeriens mit speziellen Vollmachten zur Wiederherstellung von Gesetz und Ordnung aus. Letztlich wurden Evans zufolge so in erster Linie die rechtlichen Grundlagen für eine Verschärfung der Repressionen geschaffen, die schließlich in der "Schlacht von Algier" und in der Anwendung der Folter durch die französische Armee kulminierten (154-159).

Evans schreibt jedoch die Verantwortung für die Zunahme der Gewalt nicht nur der französischen Seite zu, sondern analysiert auch, wie der Pluralismus der algerischen Nationalbewegung und die daraus resultierende interne Konkurrenz zwischen den Bewegungen als Katalysator für die Eskalation der Gewalt wirkten. Der gemäßigte Nationalismus sei durch die Divergenz zwischen republikanischer Reformrhetorik und Repression isoliert worden, was der FLN, der von Beginn an den Weg der Gewalt propagierte, für sich zu nutzen wusste. Um seinen Alleinvertretungsanspruch behaupten zu können, habe er sich jeglichen Reformansätzen verwehrt und stattdessen die Gewaltspirale vorangetrieben (108-130). Evans kommt zu dem Schluss, dass der FLN durch ein Zusammenspiel der "long hatred" und des Scheiterns des "third way reformism" den Krieg für sich entscheiden konnte: Der Algerienkrieg war kein klassischer Zweifrontenkrieg, sondern es musste die Bevölkerung gewonnen werden. Nicht nur weil der dritte Weg gescheitert war, habe der FLN diesen entscheidenden Kampf gewinnen können, sondern auch da er die in der Bevölkerung seit der Eroberung tief sitzenden Ressentiments zu nutzen wusste. Die Unabhängigkeit Algeriens habe den Willen des algerischen Volkes auf eine Art und Weise ausgedrückt, wie es der dritte Weg niemals hätte tun können (368-369).

Dass neben diesen beiden Komponenten die diplomatischen Aktivitäten des FLN und der internationale Kontext für den Ausgang des Krieges ausschlaggebend waren, wird von Evans zwar im letzten Teil der Analyse immer wieder angemerkt, aber nur marginal behandelt (261-312). Evans setzt den thematischen Fokus klar auf die genannten analytischen Leitlinien und den zeitlichen Fokus auf die IV. Republik. Aus diesem Grund wird auch der Algerienpolitik de Gaulles in der Analyse eine untergeordnete Rolle zugeschrieben. Sie sei vor allem als eine Fortsetzung der sozialistischen Politik von Bedeutung (236-247). Ebenfalls nur peripher behandelt wird die OAS (Organisation de l'armée secrète), welche am Ende des Krieges eine neue Dimension der Gewalt begründete (290-317). Insgesamt muss die Studie jedoch als ein wertvoller Beitrag zur Historiografie des Algerienkriegs angesehen werden. Die Lektüre empfiehlt sich insbesondere für eine Auseinandersetzung mit der Algerienpolitik der SFIO sowie mit Entstehung und Natur der algerischen Nationalbewegung.


Anmerkung:

[1] Martin Evans / John Phillips: Algeria. Anger of the dispossessed, New Haven 2007; Martin Evans: Mémoires de la guerre d'Algérie, Paris 2007.

Anna Laiß