Bernd Sösemann: Theodor Wolff. Ein Leben mit der Zeitung, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, 304 S., ISBN 978-3-515-10174-5, EUR 24,90
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Theodor Wolffs "Leben mit der Zeitung" war lang und außergewöhnlich. Von 1906 bis 1933 prägte er als Chefredakteur das Berliner Tageblatt (BT) und machte es zu einer im In- und Ausland viel beachteten Publikation. Diese Geschichte, und weniger die des Privatmannes Theodor Wolff, zeichnet Bernd Sösemann in der überarbeiteten Neuauflage seiner vor zwölf Jahren zum ersten Mal erschienenen Biografie nach. Sösemann ist ohne Zweifel der beste Kenner Wolffs, dessen Tagebücher er ediert und dessen gesammelte Werke er in den letzten Jahren herausgegeben hat. Auf der Grundlage dieser profunden Quellenkenntnis und einer durchgehenden kritischen Auseinandersetzung mit Wolffs beeindruckend zahlreichen Schriften erfährt der Leser auf 265 Seiten wie das BT nach seiner Gründung 1871 zum "Flaggschiff" und zur "schlagkräftigste[n] Waffe des deutschen Liberalismus" (20) avancierte, die von Unternehmern, Händlern und Intellektuellen gleichermaßen gelesen wurde. Der Anteil jüdischer Abonnenten war dabei im Vergleich zu anderen Blättern besonders hoch (85).
"Theodor Wolff führte seine Redaktion nach Prinzipien, die man patriarchisch und liberal, großzügig im Geistigen und genau im Handwerklichen sowie humanitär und verständnisvoll nennen kann." (86) Das Resultat dieser umsichtigen Leitung war eine Auflagensteigerung von 100.000 auf ca. 250.000 innerhalb von zehn Jahren, bevor sie im Ersten Weltkrieg mit über 300.000 gedruckten Exemplaren schließlich ihren Höchststand erreichte (22, 84). Sösemann beschreibt Wolff keineswegs ausschließlich als intellektuellen Vordenker und Leitartikler, sondern durchaus als Zeitungsmacher im besten Sinn: ein seiner Zeitung verschriebener Redakteur, der sich ebenso um das äußere Erscheinungsbild kümmerte wie um die Auswahl und Betreuung seiner Mitarbeiter. Vor allem aber erscheint Wolff als engagierter Journalist, für den das BT sowohl ein politisches Sprachrohr als auch ein soziales Partizipationsinstrument darstellte. "Es ging Theodor Wolff um eine deutliche politische Orientierung des Redaktionsschiffes in der täglichen anbrandenden stürmischen See, ohne es damit in ein enges und klippenreiches parteipolitisches Fahrwasser zu steuern." (84)
Obwohl Wolff schon im Pennäleralter Zeitungen gründete, war der Journalistenberuf nur seine zweite Wahl. Die eigentliche Liebe galt dem Theater und der Poesie, und erst die Einsicht, dass er für beides nicht das nötige Talent besäße, brachte ihn zum Journalismus, den er zunächst "als ein Scheitern, zumindest jedoch als ein Ausweichen und Zurückziehen empfunden hat" (49). Im November 1894 trat der 26jährige den Posten des Pariser Auslandskorrespondenten an, den ihm sein Cousin Rudolf Mosse, der Herausgeber der BT, offeriert hatte. Die zwölf Jahre, die er an der Seine verbringen sollte, erschienen ihm rückblickend als die schönsten seines Lebens. "Verliefen die Tage normal, dann genügten ein vormittägliches und ein abendliches Brief-Telegramm, also der regelmäßige Korrespondenten-Bericht und als gelegentliche Beigabe höheren Ranges ein Feuilleton." (52) Auch seiner Lust am Theater konnte er in der französischen Hauptstadt frönen und aufgrund der immer häufigeren Besprechungen etablierten sich die "Notizen über Pariser Theater" schon bald als eingeständige Rubrik des BT (58).
Sösemann beschreibt insbesondere den Dreyfus-Prozess, für den Wolff als einer der wenigen ausländischen Journalisten akkreditiert war, als "Wendepunkt in seiner Biographie" (67). Denn von nun an entschied er sich nicht nur für den Journalismus, sondern begann sich auch ebenso kritisch wie intensiv mit seiner eigenen jüdischen Herkunft auseinanderzusetzen. Daher zögerte er einige Wochen, bevor er 1906 Mosses Angebot wahrnahm und die Leitung des BT in Berlin übernahm. Die deutsche Hauptstadt schien ihm nicht nur weit weniger zu bieten als das faszinierende Paris; auch aus seiner Skepsis gegenüber den herrschenden politischen Verhältnissen in Deutschland machte er keinen Hehl. "Ala ist groß, und Hugenberg ist ihr Prophet" (82) spöttelte er in Bezug auf Hugenbergs Allgemeine Anzeigen-Gesellschaft und brandmarkte wortgewaltig die "schweifwedelnde[n] Spalierenthusiasten" (93) des wilhelminischen Staates. So machte er sich über die Jahre - neben vielen Freunden - auch viele Feinde, und während des Weltkrieges wurde das BT schließlich sechs Tage lang komplett verboten. Um die Konflikte nicht eskalieren zu lassen, akzeptierte Wolff einen mehrmonatigen Schreibverzicht (121).
Nachdem sein Blatt Anfang 1918 erneut verboten worden war, sah er nach dem Kriegsende die Gefahren, denen die neu gegründete Weimarer Republik gegenüberstand, weitaus klarer als die Mehrzahl seiner Zeitgenossen und appellierte in denkwürdigen Leitartikeln immer wieder an seine Leser, diese nicht zu unterschätzen. "Die Inhalte und die Gefährlichkeit der späteren Dolchstoßlegende, die Methoden und die Wirkungsmacht ihrer Apologeten [waren] hier bereits formuliert." (137) Die Rolle des kritischen Beobachters genügte Wolff nun nicht mehr, und er wurde Ende 1918 zu einem Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), eine Episode, die Sösemann allerdings nur kurz behandelt (145-147). Folgerichtig wurde das BT bald schon als Sprachrohr der DDP wahrgenommen, aus der Wolff 1926, nachdem sie im Reichstag die Schmutz- und Schundgesetze mitbeschlossen hatte, wieder austrat. Der frankophile Wolff begleitete die 1920er Jahre als überzeugter Anhänger von Stresemanns Locarno-Politik und begab sich, aufgrund seiner exzellenten Kontakte im In- und Ausland, sogar selbst auf halboffizielle diplomatische Reisen (169).
Der weit über die Grenzen seines Landes wahrgenommene Journalist und Publizist tauchte bereits ab 1923, im Zuge des nationalsozialistischen Putschversuches, auf Mordlisten verschiedener rechtsradikaler Organisationen auf. Auch wenn er das Schicksal, das ihm als Jude in Deutschland drohte, wohl lange unterschätze, schrieb er schon in der Zeit der Präsidialkabinette der frühen 1930er Jahre vehement gegen diese Formen der "legal maskierten Diktatur" an (195). Wolff machte sich keine Illusionen über die wahren Absichten der NSDAP. Im Februar 1933, am Abend des Reichstagsbrands, setzte er sich aus Berlin ab und reiste über Österreich und die Schweiz ins französische Exil nach Nizza. Dort sollte er etwas weniger als zehn Jahre verbringen.
Sein letzter Artikel im BT erschien am 5. März 1933; wenige Monate später wurden Wolffs Schriften zusammen mit vielen anderen öffentlich verbrannt und am Gebäude der Zeitung, der er sein Leben gewidmete hatte, prangte nun die Leuchtreklame der Zeitung Der Deutsche - das deutsche Weltblatt, dem Zentralorgan der Deutschen Arbeitsfront. Wolff verbrachte seine Exiltage nach wie vor am Schreibtisch, verfasste noch einige Bücher und publizierte in diversen ausländischen Zeitungen. So gut es ging pflegte er seine vielen Kontakte und Freundschaften, deren Liste sich wie ein who is who der europäischen Intellektuellen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liest. Das BT rührte er hingegen nicht mehr an, nachdem es die politischen Morde im Zuge des so genannten Röhm-Putschs mit einem "Durchgegriffen!" betitelten Artikel gerechtfertigt hatte.
Trotz vielfältiger Bemühungen von Freunden und Gleichgesinnten auf beiden Seiten des Atlantiks lehnte es Wolff immer wieder ab in die USA zu emigrieren. So wurde der über 70jährige schließlich 1941 in Nizza verhaftet und über Drancy nicht in eines der Vernichtungslager, sondern ins Berliner Gefängnis Moabit verbracht, bevor er am 23. September 1943 in einem Berliner Krankenhaus starb.
Sösemanns profund recherchierte und sehr gut geschriebene Darstellung konzentriert sich auf Grund der nur wenigen überlieferten privaten Quellen vor allem auf die publizistischen Produkte, also auf "die nach außen gewandte Seite des Denkens und Schreibens von Theodor Wolff" (25). Bei aller unverhohlenen Sympathie des Autors mit seinem Protagonisten kommt die kritische Auseinandersetzung und die analytische Distanz dabei keineswegs zu kurz. Sösemann distanziert sich nachdrücklich von Wolffs letztendlich unverständlicher Faszination für Mussolini, die er in seinem Interview mit ihm kundtat, und fragt, ob Wolff sich nicht letzten Endes zu kritisch gegenüber der Weimarer Republik verhielt, anstatt ihr im Angesicht der Bedrohungen vehementer die Stange zu halten (181, 201). Damit bietet er dem Leser ein faszinierendes und eindrückliches Stück deutscher Geschichte.
Volker Barth