Gabriele Anderl: "9096 Leben". Der unbekannte Judenretter Berthold Storfer, Berlin: Rotbuch 2012, 400 S., 23 s/w-Abb., ISBN 978-3-86789-156-1, EUR 19,95
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Michael Wettern / Daniel Weßelhöft: Opfer nationalsozialistischer Verfolgung an der Technischen Hochschule Braunschweig 1930 bis 1945, Hildesheim: Olms 2010
Christopher Browning: Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter. Aus dem Engl. von Karl Heinz Sieber, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2001
Beate Meyer: Tödliche Gratwanderung. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zwischen Hoffnung, Zwang, Selbstbehauptung und Verstrickung (1939-1945), Göttingen: Wallstein 2011
Andrea Löw (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Bd. 3: Deutsches Reich und Protektorat Böhmen und Mähren September 1939 - September 1941, München: Oldenbourg 2012
Moshe Zimmermann: Deutsche gegen Deutsche. Das Schicksal der Juden 1938-1945, Berlin: Aufbau-Verlag 2008
Rywka Lipszyc: Das Tagebuch der Rywka Lipszyc, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2015
Samuel D. Kassow (ed.): In Those Nightmarish Days. The Ghetto Reportage of Peretz Opoczynski and Josef Zelkowicz, New Haven / London: Yale University Press 2015
Zahlreiche Juden, die in der Zeit des Holocaust mit Billigung oder auf Anordnung nationalsozialistischer Instanzen Leitungspositionen in den verbliebenen Organen jüdischen Lebens inne hatten, gerieten in die undankbare Situation, von ihren Glaubensgenossen als Kollaborateure angesehen zu werden. Dies betraf viele Vorsitzende von Jüdischen Gemeinden oder Judenräten, aber auch die Leiter anderer Organisationen - die eigentlich helfen wollten. Der Vorsitzende der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe im sogenannten Generalgouvernement, Michał Weichert, kann hier als recht bekanntes Beispiel genannt werden.
Der Protagonist der vorliegenden biografischen Studie hat im Unterschied zu Weichert nicht überlebt. Der 1880 in Czernowitz geborene Berthold Storfer, der sich später katholisch taufen ließ, leitete in Wien den "Ausschuss für jüdische Überseetransporte" und schleuste in dieser Funktion mehrere Tausend Juden auf Schiffen aus dem deutschen Machtbereich. Die österreichische Historikerin Gabriele Anderl schreibt über Storfer und ihren Zugang zu seiner Lebensgeschichte: "Dieses Buch stellt den Versuch einer biographischen Annäherung an eine schillernde, streitbare und zugleich umstrittene Persönlichkeit dar, an einen Menschen, der zeitlebens und über den Tod hinaus polarisiert hat. Storfer hat das Leben Tausender Verfolgter durch die Organisation ihrer Flucht ins Ausland gerettet und selbst mit seinem Leben bezahlt." (25)
Storfer geriet zwischen viele Fronten: Er galt als Kollaborateur und Gehilfe Eichmanns. Die Zionisten beispielsweise warfen ihm vor, er wähle die Emigranten nach den Kriterien der Nationalsozialisten aus (so wollte Eichmann beispielsweise gern alte und kranke Juden loswerden), während sie doch gerade junge Männer für den Aufbau des Landes nach Palästina schicken wollten. Konflikte gab es viele - doch bereits Dalia Ofer hat in ihrer großen Untersuchung der "illegalen" (weil nicht von der britischen Mandatsmacht gestatteten) Immigration nach Palästina ausdrücklich betont: "Storfer operated during a period when forced emigration was policy, a context in which every act directed at getting Jews out of the Reich was an act of rescue." [1] Ofer hat seinen Rettungsaktivitäten ein eigenes Kapitel in ihrer Studie gewidmet, ansonsten war es bisher schwer, ausführlichere Informationen über Storfer und seine Aktivitäten zu finden. [2]
Gabriele Anderl präsentiert Storfers Biografie so ausführlich, wie die vorhandenen Quellen dies zulassen. Vieles bleibt im Dunkeln, das legt sie aber jeweils offen. Sehr detailliert kann sie Storfers Aktivitäten im "Ausschuss für jüdische Überseetransporte" anhand seiner umfangreichen Schriftwechsel rekonstruieren, die in der Hauptsache im Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wiens überliefert sind - Teile seiner Briefe stammen aus einer Aktentasche Storfers, die erst 1998 entdeckt wurde.
Im Frühjahr 1939 hatte Adolf Eichmann Storfer mit der Leitung des "Ausschusses für jüdische Überseetransporte" beauftragt. Anderl schildert die Bemühungen Storfers, Schiffe anzuheuern, Gelder aufzutreiben und auch zu übermitteln - all dies Unternehmungen, die unter den gegebenen Umständen ungeheuer kompliziert waren und immer wieder kurz vor einem erwarteten Erfolg scheiterten. Und sie lässt ihn selbst ausführlich zu Wort kommen. Die Quellen sind stark, werden in vielen Fällen zum ersten Mal öffentlich gemacht, doch geraten die dichten Folgen von Zitaten mitunter etwas zu lang, der Leser verliert sich in den zahlreichen Zitaten und Beziehungsgeflechten. Und doch wird eindrucksvoll deutlich, mit wie vielen Schwierigkeiten Storfer und seine Mitarbeiter konfrontiert waren. Beispielhaft sei hier sein eigener Bericht über die Probleme mit einem der Auswandererschiffe zitiert: "Das Schiff 'Rositta' gehört nicht uns, sondern dem Reeder Sokrates Avgherinos, welcher die Angestellten in Braila engagiert und zu bezahlen hat. [...] Der Reeder Avgherinos ist plötzlich gestorben, und die Erben wohnen zum Teil in Griechenland und zum Teil in Rumänien. Durch die verschärften Kriegsverhältnisse sowohl im östlichen Mittelmeer als auch im Schwarzen Meer sind die Erben Avgherinos´ nicht in der Lage, ihren Versprechungen nachzukommen, und das genannte Schiff steht deshalb in Braila unbenützt, bis der Seeverkehr möglich sein wird. [...]" (188 f.).
Es wird beklemmend deutlich, wie absurd die Situation in dieser Phase im Grunde war: Die Nationalsozialisten wollten bis zum Verbot der Emigration im Oktober 1941 die deutschen, österreichischen und auch tschechischen [3] Juden unbedingt zur Auswanderung zwingen, entließen Juden mit einer Auswanderungsmöglichkeit teilweise sogar aus den Konzentrationslagern, zugleich bemühten sich inzwischen zahlreiche Juden verzweifelt um Auswanderung, individuell und institutionell - und dann konnte diese Auswanderung für die meisten von ihnen nur eine "illegale" sein oder kam gar nicht erst zustande. Die Autorin beschreibt die Irrfahrt mehrerer von Storfer gecharterter Schiffe, die damit endete, dass die Emigranten, als sie endlich an der Küste Palästinas eintrafen, von den Briten keine Einreiseerlaubnis erhielten, stattdessen nach Mauritius verschleppt und dort interniert werden sollten. Daraufhin kam es zur bekannten Katastrophe auf der "Patria", auf die die Flüchtlinge verbracht worden waren. Der jüdische Untergrund versuchte, die Ausschiffung durch eine Explosion zu vermeiden, die jedoch falsch berechnet war: Der Sprengsatz versenkte das Schiff im November 1940 innerhalb weniger Minuten, mehr als 250 Passagiere kamen ums Leben, viele vor den Augen ihrer Verwandten, die an Land auf sie warteten.
Storfer selbst versuchte offenbar im Jahr 1943, nachdem er zuvor einige Gelegenheiten hatte verstreichen lassen, doch noch ins Ausland zu fliehen. Es gelang ihm nicht, auch sein Versuch, im Untergrund zu überleben, scheiterte. Im September 1943 wurde er, wenige Tage, nachdem er untergetaucht war, verhaftet, zwei Monate später wurde er nach Auschwitz deportiert. Dort besuchte sogar noch Adolf Eichmann den Mann, mit dem er Jahre lang in Sachen Auswanderung in Wien zu tun hatte. Einige Wochen nach einer Begegnung, die Eichmann später als, "normales, menschliches Treffen" (345) bezeichnete, war Berthold Storfer tot. Die genauen Todesumstände lassen sich nicht mehr rekonstruieren, vermutlich wurde er erschossen. Was über diese umstrittene Persönlichkeit, die doch so vielen Juden das Leben gerettet hat, zu ermitteln war, hat Gabriele Anderl zu einer lesenswerten Studie zusammengetragen.
Anmerkungen:
[1] Dalia Ofer: Escaping the Holocaust. Illegal Immigration to the Land of Israel, 1939-1944, New York / Oxford 1990, 124.
[2] Als Ausnahmen sind hier noch zu nennen: Jürgen Rohwer: Jüdische Flüchtlingsschiffe im Schwarzen Meer - 1934 bis 1944, in: Ursula Büttner (Hg.): Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus, Bd. 2: Verfolgung, Exil, belasteter Neubeginn, Hamburg 1986, 197-248; Arno Lustiger: Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit, Göttingen 2011. Der kürzlich verstorbene Lustiger hat auch das Vorwort für diese Studie geschrieben.
[3] Seit dem März 1939 lebten diese im sogenannten Protektorat Böhmen und Mähren im deutschen Machtbereich.
Andrea Löw