Jisheng Yang: Grabstein. Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958-1962, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2012, 800 S., ISBN 978-3-10-080023-7, EUR 28,00
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Das vorliegende Buch ist nach Frank Dikötters "Mao's Great Famine" (London 2010) das zweite große Werk über diese Katastrophe. Dikötter ist Universitätsprofessor in Hongkong, Yang seit 1964 KPCh-Mitglied. Er arbeitete unter anderem als Journalist für die Nachrichtenagentur Neues China. Sein Buch erschien 2008 bei Cosmos Books in Hongkong und ist dort nicht mehr lieferbar. In China ist es verboten. Es ist der "Grabstein" für Yangs 1959 verhungerten Vater, der einer der 36 Millionen Toten war, die als Folge von Mao Zedongs "Großem Sprung nach vorn" in den Jahren 1958 bis 1962 starben. Seine wichtigsten Quellen sind Zeitzeugenberichte, Protokolle, offizielle Berichte und Statistiken.
Gegen Maos "Überstürzung" im Aufbau der Wirtschaft leisteten Ministerpräsident Zhu Enlai und andere für die Wirtschaft zuständige Spitzenfunktionäre Widerstand. Mao erreichte auf den Konferenzen von Nanning (Januar 1958) und Chengdu (März 1958), dass Zhu Selbstkritik übte. Die Parole lautete jetzt: "mehr, schneller, besser und sparsamer". Die Provinzen und Kreise sollten bei der Erhöhung der Planziele miteinander wetteifern. Der "Große Sprung nach vorn" mit dem Ziel, England in sieben Jahren zu überholen, wurde proklamiert.
Yang bezeichnet die Volkskommunen aus 5000 Haushalten als Basisorganisationen eines totalitären Systems. Sie umfassten die Bereiche Landwirtschaft, Industrie, Armee, Wasserbau, Forstwirtschaft, Viehzucht, Verkehr, Gesundheit und Kultur. Die Parteikomitees waren ihr Führungszentrum. Die Gemeinschaftsküchen, die von 1958 bis 1961 bestanden, führten zur Katastrophe, denn sie zerstörten den Zusammenhalt der Familien, die sich selbst versorgten und einer Hungersnot eher begegnen konnten. Am 11. Juni 1959 erlaubte das ZK der KPCh private Schweinehaltung und Privatparzellen. Diese Reform wurde durch die "Wende von Lushan", eine Konferenz führender Kader, die vom 2. Juli bis 10. August 1959 stattfand, abgebrochen. Während dieser Konferenz richtete Politbüromitglied und Verteidigungsminister Peng Dehuai an Mao ein Schreiben, in dem er die Erfolge des "Großen Sprungs" als unumstritten bezeichnete, aber darauf hinwies, dass einige Projekte überdimensioniert gewesen seien. Bei der "Stahlgewinnung des ganzen Volkes" seien Ressourcen verschwendet worden. Der "Wind der Schaumschlägerei" habe sich im ganzen Land erhoben. Mao hielt einige Tage danach eine Rede, in der er seinen Kritikern "Rechtsopportunismus" vorwarf. Ein "Flächenbrand gegen rechts" wurde ausgelöst, Peng verlor alle Funktionen. Die Folge dieser Wende: 1960 erreichte der Hunger seinen Höhepunkt. 1961 gab Mao zu, dass es falsch gewesen war, den Kampf gegen Peng auch auf der untersten Ebene auszutragen. Auf der "Versammlung der Siebentausend" im Januar 1962 führte Staatspräsident Liu Shaoqi die Misere, in der sich das Land befand, nur zu dreißig Prozent auf Naturkatastrophen zurück. Siebzig Prozent seien "menschengemacht". 1981 gestand man dann "die Fehler des 'Großen Sprungs nach vorn' und des 'Kampfes gegen rechte Tendenzen'" ein.
Die Katastrophe begann in der Provinz Henan. Diese Provinz sollte zum Bannerträger des "Großen Sprungs" werden. Innerhalb von zwei Jahren sollten 8,8 Milliarden Kubikmeter Erde und Steine verbaut werden, was der Menge von 48 Panama-Kanälen entsprach. Wissenschaftliche Berechnungen wurden durch "Mut zum Handeln" ersetzt. Damit sollte eine Wasserspeicherkapazität geschaffen werden, mit der 8,3 Millionen Hektar Land bewässert werden sollten. Ende der 80er Jahre waren es aber nur 3,3 Millionen.
In Henan hatte die durch den Parteisekretär der Provinz nach "oben" gemeldete maßlose Übertreibung der zu erwartenden Getreideproduktion eine so starke Erhöhung der zwangsweise erhobenen Ankaufquote zur Folge, dass die Bauern gezwungen waren, ihr Saatgut, ihr Tierfutter und ihre Lebensmittelvorräte abzugeben. Im Oktober 1958 wurde verkündet, dass 5,77 Millionen Menschen an über 220000 Schmelzöfen arbeiteten. Weil die Bauern von den Behörden zu den großen Projekten abgezogen worden waren, ist die Hälfte der Getreideernte auf dem Halm stehengeblieben und verrottet. Im Kreis Xinyang sind von Oktober 1959 bis April 1960 von 8,4 Millionen Einwohnern 1,05 Millionen verhungert. In dieser Zeit war in den Getreidespeichern über 1 Milliarde Pfund Getreide gelagert. Wenn man die Speicher geöffnet und das Getreide verteilt hätte, hätte niemand verhungern müssen. Als Mao im Oktober 1960 über diese Ereignisse informiert wurde, bezeichnete er sie als "Restauration der Grundbesitzerklasse".
In der reichen Provinz Sichuan verhungerten 10 Millionen Menschen. Ursache war die Ankündigung maßloser Zahlen für die Getreideproduktion, die Stahlproduktion, die Staudämme und die Zusammenlegung von Volkskommunen, über die vom Zentralorgan der KPCh euphorisch berichtet wurde. Die vom ZK am 11. Juni 1959 beschlossene Korrektur "linker" Tendenzen wurde in Sichuan nicht befolgt. Als im Jahr 1962 das ganze Land die Hungersnot überwunden hatte, gab es in Sichuan noch zahlreiche Berichte über Hungertote und Kannibalismus.
Das Wohlleben der Kader ist von den Massen mit den treffenden Worten charakterisiert worden: "Wir magern ab zum Skelett, die Kader fressen sich fett." Häufig werden in Berichten Bankette geschildert, die von Kadern aus verschiedenen Anlässen gegeben wurden, während Gemeinschaftsküchen wegen Nahrungsmittelmangels geschlossen werden mussten. Immer wieder wurde von Kadern berichtet, die Kommunemitglieder aus nichtigem Anlass aufgehängt, totgeschlagen oder in den Selbstmord getrieben hatten. Die Zahl der weiteren Strafen ist Legion.
Aus der Provinz Anhui berichtet Yang über die Baustellen der Wasserbauarbeiten im Kreis Fengyang, wo die Bauern, die dorthin befohlen wurden, schlechter gehalten wurden als Sklaven. Der Sekretär des Kreiskomitees gab die Parole aus: "Drei Tage und drei Nächte ohne Essen, und die Effektivität ist dreimal so hoch. Wenn es schneit, wird mit nacktem Oberkörper gearbeitet." Der stellvertretende Leiter einer Produktionsbrigade hängte 100 Personen eigenhändig an Fesseln auf und peitschte sie aus, wobei 35 Personen zu Tode kamen.
Der stellvertretende Gouverneur der Provinz Anhui, Zhang Kaifan, hat sich im Juli 1959 über die katastrophale Lage im Kreis Wuwei orientiert und vorgeschlagen, ein paar Millionen Pfund Getreide aus den staatlichen Speichern an Kranke und Kinder zu verteilen. Die während der Einrichtung der Volkskommunen beschlagnahmten Privatpachtzellen sollten an die Kommunemitglieder zurückgegeben, Märkte und Fischteiche geöffnet werden. Als das Mao Zedong hinterbracht wurde, brandmarkte er Zhang als rechten Opportunisten, ließ ihn absetzen, aus der Partei ausschließen und in ein Umerziehungslager bringen. Die Folge war, dass bis 1961 in Wuwei 300000 Menschen verhungerten. Nach der Kulturrevolution ist Zhang in sämtliche Funktionen zurückgekehrt.
Das Resümee aus seinem erschütternden Buch zieht Yang mit den Worten: "Die Wurzeln der dreijährigen Hungersnot liegen in einer Forcierung der kommunistischen Ideale mit Mitteln eines totalitären Systems und des Klassenkampfes." (735) Zu dem in flüssiges Deutsch übersetzten Werk bleibt abschließend zu bemerken: Die Abteilungen der Provinzkomitees werden irrtümlich als Ministerien bezeichnet, die Parteitage als Vollversammlungen. Eine Komintern gab es seit 1943 nicht mehr. Unter der Fülle der langatmig diskutierten Statistiken, die das Buch enthält, leidet die Lesbarkeit. Eine Karte mit den Namen und Grenzen der chinesischen Provinzen sowie ein ausführliches Sach- und Personenregister hätten die Lektüre sehr erleichtert.
Otto Wenzel