Peter Fassl (Hg.): Beiträge zur Nachkriegsgeschichte von Bayerisch-Schwaben 1945-1970. Tagungsband zu den wissenschaftlichen Tagungen von 2006, 2007 und 2008 (= Schriftenreihe der Bezirksheimatpflege Schwaben zur Geschichte und Kultur; Bd. 2), Augsburg: Wißner 2011, VIII + 638 S., ISBN 978-3-89639-837-6, EUR 39,80
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K. Erik Franzen: Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954-1974, München: Oldenbourg 2010
Mathias Beer: Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München: C.H.Beck 2011
Rick Tazelaar: Hüter des Freistaats. Das Führungspersonal der Bayerischen Staatskanzlei zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegsdemokratie, Berlin: De Gruyter 2023
Der vom Bezirksheimatpfleger Schwaben herausgegebene, auf drei Tagungen in der Akademie Irsee basierende Band versammelt Aufsätze zur Geschichte Bayerisch-Schwabens von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre. Auf die Bedeutung der Immigranten aus den östlich der Oder und Neiße gelegenen Gebieten für Schwaben, den Regierungsbezirk Bayerns mit der höchsten Aufnahmequote, wird in der ersten Kapitelüberschrift "Neubeginn, Wiederaufbau und Heimatvertriebene" explizit hingewiesen. Allerdings bearbeitet nur der Aufsatz des Allgäuer Historikers Manfred Heerdegen über die Entstehung der sudetendeutschen Interessengruppen dieses Feld als eigenständiges Thema. Des Weiteren finden sich Arbeiten zur Polizei und zur Presse, eine Lokalstudie zur Situation der Kriegsheimkehrer in Lindau am Bodensee sowie Studien zu städtebaulichen Entwicklungen ausgewählter Orte in Bayerisch-Schwaben, darunter auch der durch die ehemaligen deutschen Bewohner von Gablonz, heute Jablonec nad Nisou in Tschechien, gegründeten Gemeinde Neu-Gablonz. Vier Beiträge widmen sich Aspekten der wirtschaftlichen Entwicklung, und nur zwei verzeichnet das dritte Kapitel über Politik und Parteien. Die Überschrift des letzten Abschnitts "Alltag, Bildung und Kultur" verrät etwas über die Buntheit der darunter subsumierten Aufsätze. Themen mit Brücken zur Alltagsgeschichte und zur Geschichte von Institutionen (Rundfunk) sind hier ebenso versammelt wie zu spezifischen Entwicklungen im Bildungswesen. Der reich bebilderte und profunde Beitrag von Markus Würmseher über die sakrale Baukultur macht die Verschränkung von religiöser Architektur und Liturgie sowie die architektonische Vielfalt nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) transparent. Nicht zuletzt wirft der Musikwissenschaftler Josef Focht einen Blick auf die Musikgeschichte Bayerisch-Schwabens - bislang eine "Terra incognita" (539) der Musikwissenschaft.
Lokalgeschichte bedeutet immer eine Gratwanderung. So betont der Herausgeber in der Einleitung, "durch den mikrohistorischen Vergleich Ursachen und Folgen präziser und differenzierter" beleuchten zu können (3). Zweifelsohne sind Einzelfallstudien zu Lebensläufen und lokalen Kontexten immer dann unverzichtbar, wenn die anthropologische Dimension im Mittelpunkt steht, wenn es um die Rekonstruktion von Erfahrungen geht, um Lebensgefühle und Lebensverhältnisse im Rahmen einer Alltags- und Mentalitätsgeschichte wie auch von Gender-Studien. Auf der anderen Seite stellt der mikrohistorische Zugang gerade zur ländlichen Gesellschaft den Forscher vor methodische Probleme. Die Frage nach der Übertragbarkeit und damit der Relevanz der Ergebnisse ist dabei ebenso zentral wie der Blick auf "die Wechselwirkung von Zentrum und Peripherie" [1], die gerade in den 1950er und 1960er Jahren einen großen Bedeutungszuwachs erfuhr. Andreas Eichmüller wählt daher in seinem Beitrag zur Entwicklung der Landwirtschaft den Zugriff auf der Mesoebene. Nicht nur Dörfer, sondern ganze Landkreise stehen im Fokus. Dem Historiker stehen jedoch noch weitere Mittel und Wege offen, mikrohistorischen Studien das nötige Gewicht zu verleihen. Gewonnene Spuren, Bilder, Facetten und Details können auf der longue durée verortet und gedeutet oder für neue Themenfelder fruchtbar gemacht werden. Ob auf der Ebene der Gleichzeitigkeit oder der Schiene der Ungleichzeitigkeit, ohne eine "rekonstruktive Vernetzung", so der Pionier der Alltagsgeschichte Alf Lüdtke, bleiben alle "Einzelmomente hilflos und antiquarisch." [2]
Betrachtet man die vorliegende Aufsatzsammlung unter diesen Gesichtspunkten, so bietet sich dem Leser ein uneinheitliches Bild. Der Beitrag Manfred Heerdegens über die Entwicklung der Organisation der Vertriebenen aus dem Sudetenland in Bayerisch-Schwaben offenbart ein grundsätzliches Problem dieses Sammelbands: Der Forschungsstand ist teilweise veraltet. Heerdegen hat die 2010 erschienene, facetten- und detailreiche Studie K. Erik Franzens über die Genese der Schirmherrschaft des bayerischen Staates über die Sudetendeutschen nicht mehr berücksichtigt. [3] Seither ist die "Entstehung und Entwicklung der Landsmannschaften in Bayern" (120) eben kein Forschungsdesiderat mehr. Hinzu tritt ein offensichtlich hoher Grad an emotionaler Nähe des Autors zum Thema "Flucht und Vertreibung". Heerdegen, der seit Jahren im regionalgeschichtlichen Kontext forscht und mit Zeitzeugen arbeitet, lässt es bisweilen an der nötigen Distanz zum Untersuchungsgegenstand fehlen. Nur so ist erklärbar, dass er der Dissertation von Tobias Weger über Kontinuitäten auf der Ebene der organisierten Vertriebenen - von Jutta Faehndrich als eine der besten Arbeiten zu diesem Thema bezeichnet - unterstellt, "die Landsmannschaften und sonstigen Interessengruppen der Vertriebenen pauschal in die Nähe des Rechtsextremismus zu rücken" (120). [4]
Zweifelsohne ein Musterbeispiel regionalgeschichtlicher Forschung hingegen ist der Aufsatz "Südwestlicher Eckpfeiler Bayerns? - Ökonomischer Wandel, Raumbilder und regionale Strukturpolitik in Bayerisch-Schwaben (1945-1975)" von Stefan Grüner. Der Historiker arbeitet integrativ und komparativ, indem er einerseits auf einer außerordentlich breiten Quellengrundlage die spezifische, aber gleichzeitig disparate wirtschaftliche und strukturelle Entwicklung Bayerisch-Schwabens aufzeigt. Auf der anderen Seite verliert er an keiner Stelle den vergleichenden Blick auf die Landesebene, auf Deutschland und Europa. In seine Studie einbezogen sind aktuelle, von den Sozialwissenschaften inspirierte Konzepte, wie das des Raums als ein "mentales Konstrukt" (173). Der spatial turn schafft ein Bewusstsein dafür, dass Räume nicht nur ökonomisch und strukturell, sondern auch auf der Ebene von Mentalitäten und kollektiven Identitäten, mit Hilfe von mental maps beschrieben werden können. Implizit gibt dieser Beitrag damit auch einen Hinweis auf eine Leerstelle des Sammelbands: die Mentalitätsgeschichte.
Katrin Holly, die über Jahre die weitgehend ungeordneten Aktenbestände der Lech-Elektrizitätswerke in Augsburg gesichtet und ausgewertet hat, wollte dem Zusammenhang zwischen Elektrifizierung und Strukturwandel nachgehen (286). Letztlich ist dieses Unterfangen an fehlender Systematik und mangelnder Kontextualisierung gescheitert. Die Autorin hat es versäumt, in der Fülle von Informationen über die komplizierte Konkurrenzsituation der Lechwerke, über Werbekampagnen, Teilzahlungssysteme und technische Details eine tragfähige Brücke zwischen Unternehmens-, Alltags- und Erfahrungsgeschichte zu schlagen. Bezeichnenderweise endet der umfangreiche Beitrag ohne Fazit mit der Strompreispolitik.
Auch wenn die Aufsätze hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Relevanz für die Geschichte der Nachkriegszeit Asymmetrien aufweisen, so offenbart dieser Sammelband auch die Stärken von Lokal- und Regionalgeschichte. Die Bedeutung des Themas "Flucht, Vertreibung und Integration" für die ersten Nachkriegsdekaden - bis dato durchaus kontrovers bewertet - scheint in nahezu allen Beiträgen durch. Die Zeit für eine multiperspektivisch angelegte Migrationsgeschichte ist zweifelsohne reif - einer Geschichte, die sich auch Fragen nach der Veränderung der Aufnahmegesellschaft durch Migration widmet. Außerdem ist eine Öffnung gegenüber der Genderthematik überfällig. Deren Fehlen in diesem Tagungsband fällt auf und überrascht zugleich. Gerade die Mikro- und Mesoebene - dies macht der Aufsatz Eichmüllers über die Landwirtschaft augenfällig - bietet ein reiches Reservoir, strukturellen Wandel und die Dynamik der Geschlechterverhältnisse miteinander zu vernetzen.
Die Chance der Annäherung an Geschichte mit dem Mikroskop liegt weniger in neuen Einzelfallstudien - es gibt inzwischen einige exzellente pars-pro-toto-Werke -, sondern in einem neuen Blick auf Lokal- und Regionalgeschichte.
Anmerkungen:
[1] Jaromίr Balcar: Politik auf dem Land. Studien zur bayerischen Provinz 1945 bis 1972, München 2004, 19.
[2] Alf Lüdtke (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a.M. / New York 1989, 20.
[3] K. Erik Franzen: Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954-1974, München 2010.
[4] Tobias Weger: "Volkstumskampf" ohne Ende. Sudetendeutsche Organisationen 1945-1955, Bern u.a. 2008. Vgl. dazu die Rezension von Jutta Faehndrich, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10 [15.10.2009]; URL: http://www.sehepunkte.de/2009/10/17153.html.
Susanne Greiter