Juliane von Fircks: Skulptur im südlichen Ostseeraum. Stile, Werkstätten und Auftraggeber im 13. Jahrhundert (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; 90), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2012, 208 S., 16 Farb-, 172 s/w-Abb., ISBN 978-3-86568-608-4, EUR 49,95
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Tobias Kunz: Skulptur um 1200. Das Kölner Atelier der Viklau-Madonna auf Gotland und der ästhetische Wandel in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2007
Jan Friedrich Richter: Claus Berg. Retabelproduktion des Spätmittelalters im Ostseeraum, Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft 2007
Justin Kroesen / Regnerus Steensma: Kirchen in Ostfriesland und ihre mittelalterliche Ausstattung, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2011
2007 publizierte Tobias Kunz eine Abhandlung zur "Skulptur um 1200", die eine bemerkenswerte Öffnung der deutschen gegenüber der skandinavischen Kunstgeschichtsforschung bedeutete. [1] Mit der jetzt vorliegenden Publikation leistet Juliane von Fircks dasselbe für eine etwas spätere Periode, die Früh- und Hochgotik des 13. Jahrhunderts. Im Fokus stehen hier die Marienbilder. Das eigentliche Untersuchungsgebiet ist das alte Wendenland zwischen Lübeck und Stralsund mit seinen bedeutenden Städteneugründungen. Als Vergleich wird jedoch ein weit umfangreicheres Material in Dänemark, auf Gotland und auf dem schwedischen Festland einbezogen.
Die Übersicht über die Forschungslage (10-14) ist in erster Hinsicht eine Auseinandersetzung mit den Studien Hans Wentzels, der für fast sämtliche qualitätvollen Skulpturen im Ostseeraum des 13. Jahrhunderts eine Entstehung in Lübeck postulierte. [2] Sein 1938 erschienenes Buch ist von seiner Zeit geprägt, doch erfährt er hier eine neutrale Würdigung als bedeutender Initiator.
Das folgende Kapitel ist eine "Spurensuche" nach Marienbildern der "Städtegründungszeit" (15-36). Hier entpuppt sich die bislang als "romanisch" angesehene Banzkow-Madonna infolge einer effektiven Stilanalyse als ein spätes Werk der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts. Ebenso können eine Reihe Madonnen mit stilisiertem Muldenfaltenstil, deren wichtigste eine Figur aus Berlitz ist, als retardierende Arbeiten der Zeit um 1260/70 nach westfälischem Vorbild eingeordnet werden. Als westfälischer Import wird eine Madonna aus der Nikolaikirche in Stralsund identifiziert. Diese weist aber auch ein in Skandinavien weit verbreitetes Phänomen auf: einen (heute verschwundenen) Kindeskopf, der separat geschnitzt und mit einem langen konischen Zapfen auf den kleinen Körper aufgesetzt wurde.
Diese im Anspruch eher bescheidene, stilistisch verspätete wendische Eigenproduktion wird mit dem Abschnitt "Zwischen Lund und Roskilde" (37-63) kontrastiert, in dem Juliane von Fircks die reiche frühgotische Holz- und Elfenbeinskulptur analysiert, die sich in Dänemark bereits um 1220 entfaltet hatte. Als Hintergrund hebt sie die historische Bedeutung und kulturelle Blüte des Landes unter König Waldemar II. (1202-41) hervor. Präsentiert werden Hauptstücke wie die Überreste der Triumphkreuzgruppe aus Roskilde, der Elfenbeinkorpus in Herlufsholm und eine Gruppe der Anbetung der Könige, ebenfalls aus Elfenbein. Von dem Marienbildnis der letzteren Gruppe leitet die Autorin die Gestaltung einer Reihe von seeländischen und schonischen Holzmadonnen ab. In diesem Punkt haben sie und der Rezensent, der diesen Zusammenhang bereits feststellen konnte, parallel Forschung betrieben. [3]
Hiernach wird der Blick mit dem Kapitel "Thronmadonnen und Olafsbilder auf Gotland" nach Schweden gerichtet (64-93). In Übereinstimmung mit der früheren Forschung nimmt Juliane von Fircks an, dass der Muldenfaltenstil mit der sogenannten Hablingbo-Gruppe um 1220/40 nach Gotland kam. Und es werden eine Reihe hochgotischer Altarskulpturen der Zeit um 1300 mit drei monumentalen Heiligenfiguren verglichen, die als Bekrönung des Schnitzaltars im holsteinischen Cismar stehen.
Das letzte und umfangreichste Kapitel mit dem Titel "Monumentalität und Verfeinerung" (94-163) gilt der wendischen Hochgotik mit der großformatigen Anna Selbdritt in der Stralsunder Nikolaikirche aus der Zeit um 1290 als wichtigen Dreh- und Angelpunkt. Diese Figur wird mit guten Argumenten Künstlern aus Lübeck zugeschrieben, während für eine Reihe anderer Skulpturen, unter anderem in der Zisterzienser-Klosterkirche Doberan und im Dom zu Schleswig, in erster Linie sächsische Quellen geltend gemacht werden.
Das Gesamturteil der Verfasserin, dass die lübische und wendische Skulptur erst nach 1260 (Bau der Marienkirche in Lübeck) richtig zur Blüte gelangte, geht von den tatsächlich erhaltenen oder zumindest bekannten Zeugnissen aus. Doch so ungeheuer vieles muss verschwunden sein, vor allem von den frühesten Skulpturen. So fragt man sich, ob die rheinländische Werkstatt, die, wie Peter Tångeberg und Tobias Kunz nachweisen konnten [4], kurz vor 1200 auf Gotland gearbeitet hat, als Phänomen einzigartig war, oder ob es nicht zur selben Zeit den vergleichbaren Fall einer nach Lübeck ausgewanderten Werkstatt gegeben hatte. Und man fragt sich gleichfalls, ob die gotländische "Hablingbo-Gruppe" mit seinen Ringkreuzen nun auch hier richtig von den klassischen sächsischen Kruzifixen wie die in Merseburg, Wechselburg und Freiberg abgeleitet werden können. Die polnisch-schwedische Kunsthistorikerin Joanna Wolska wird zwar von Juliane von Fircks zitiert, doch nicht ihre These, dass die Ringkreuze "in einer näheren Verbindung mit Frankreich" stehen könnten. [5] Der Rezensent hat sich selbst positiv zur These Wolskas geäußert und direkter auf (verschwundene) Vorbilder im Rheinland hingewiesen. [6] Zudem wurde von ihm auf Ähnlichkeiten zwischen den gotländischen Ringkreuzen und dem Kruzifix in Ratzeburg bei Lübeck aufmerksam gemacht - Ähnlichkeiten, die dafür sprechen, dass der neue Muldenfaltenstil via Lübeck nach Gotland kam. [7]
Vielleicht also war in Wirklichkeit die Eigenständigkeit und Eigenproduktion des Untersuchungsgebiets bedeutender als es heute scheinen mag und von Juliane von Fircks dargelegt wird. Doch Vorsicht ist eine wissenschaftliche Tugend, und die Verfasserin argumentiert und untermauert stets genau und zuverlässig. Sie beherrscht das kunsthistorische "Handwerk" und greift überdies die Geschichte und die historische Geografie stets sicher an. Der Leser kann sich zudem über eine ungewöhnlich gute Korrespondenz zwischen Text und Bildern freuen. Es handelt sich freilich um ein gewichtiges Buch mit Implikationen weit über Deutschlands baltische Nordküste hinaus.
Anmerkungen:
[1] Tobias Kunz: Skulptur um 1200. Das Kölner Atelier der Viklau-Madonna auf Gotland und der ästhetische Wandel in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; Bd. 45), Petersberg 2007. Rezension von Ebbe Nyborg: http://www.sehepunkte.de/2008/07/13446.html.
[2] Hans Wentzel: Lübecker Plastik bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Berlin 1938.
[3] Ebbe Nyborg: Wybrane dziela rzezby wczesnego i pelnego gotyko na pomorzu i ich zwiazki ze sztuka skandynawska, in Terra Transoderana. Sztuka Pomorza Zachodniego i Dawnei Nowei Marchii w Sredniowieczu, Szczecin 2004, 311-314; Ebbe Nyborg: Anders Sunesens helligtrekongersgruppe og en baltisk madonnatype, in: Nationalmuseets Arbejdsmark 2008, 187-202.
[4] Wie Anm. 1; Peter Tångeberg: Måleri på romanska träskulpturer, in: Den ljusa medeltiden (Festschrift Aron Andersson), Stockholm 1984, 301-314; Peter Tångeberg: The Crucifix from Hemse, in: Maltechnik - Restauro 90, 1984, 24-34.
[5] Joanna Wolska: Ringkors från Gotlands medeltid. En ikonografisk och stilistik studie, Stockholm 1997.
[6] Ebbe Nyborg: Rezension von Wolska 1997 (wie Anm. 5), in: Fornvännen 2004, 59-63.
[7] Ebbe Nyborg: Kreuz und Kreuzaltarretabel in dänischen Pfarrkirchen des 12. und 13. Jahrhunderts. Zur Genese der Ring- und Arkadenkreuze, in: Hartmut Krohm / Klaus Krüger / Matthias Weniger: Entstehung und Frühgeschichte des Flügelaltarschreins, Berlin 2001, 25-49.
Ebbe Nyborg