Thomas Frank / Norbert Winkler (Hgg.): Renovatio et unitas - Nikolaus von Kues als Reformer. Theorie und Praxis der reformatio im 15. Jahrhundert (= Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung; Bd. 13), Göttingen: V&R unipress 2012, 253 S., ISBN 978-3-89971-962-8, EUR 39,90
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Der Band geht auf einen 2011 an der Freien Universität Berlin von den Herausgebern veranstalteten Workshop zurück; zunächst sollten die Beiträge nicht publiziert werden. Dass es doch dazu kam, liegt, so die beiden Herausgeber im Vorwort, darin begründet, dass trotz "profunder Differenzen zwischen dem philosophischen und dem historischen Zugang doch auch Anknüpfungspunkte sichtbar wurden", was zu einem Gespräch führte, das für beide Seiten "ergiebig sein konnte" (7).
Der Band setzt mit einer Einleitung der beiden Herausgeber ein, in dem sie deutlich machen, dass dasjenige, was heute mit "Reform" bezeichnet wird, seine Herkunft von der "conversio" hat, also auf die sittliche Besserung des einzelnen Individuums zielt und erst an zweiter Stelle, vermittelt durch den ordo-Gedanken des Augustinus, in den Horizont institutioneller und gesellschaftlicher Veränderungen rückt (9f.). Vor diesem Hintergrund kann auf der einen Seite historisch nach Reformansätzen des Cusanus im Kontext des 15. Jahrhunderts gefragt werden, wie es die Mehrzahl der Beiträge tut, auf der anderen Seite aber auch die "weitergehende Frage von prinzipieller Wichtigkeit" (12) angegangen werden, welche Zusammenhänge zwischen der konkreten "Reform" und der "grundlegenden Reform der philosophischen Betrachtung überhaupt" (ebd.) bestehen.
Um es vorweg zu sagen: Es mag sein, dass das Gespräch auf dem Workshop dazu einiges beigetragen hat, die Beiträge des Bandes, so ergiebig sie im Einzelnen sind, lösen diesen Anspruch nicht ein, da sie sich faktisch kaum über die Grenzen hinwegbewegen. Vorgestellt werden sollen aufgrund der Kürze der Besprechung aus dem Sammelband lediglich zwei philosophische Beiträge. Es soll aber ausdrücklich vermerkt werden, dass die historischen Beiträge des Bandes wertvolle Analysen zum konkreten Reformhandeln des Cusanus im Laufe seines Lebens bieten. Sie gehen dabei zumeist auf noch nicht so gut erschlossene Bereiche aus der Vita des Cusanus ein, so dass Cusanus-Spezialisten, insbesondere Historiker, reichhaltiges Material finden, etwa zur Auseinandersetzung mit den Böhmen (Senger), der Visitation von St. Simeon in Trier (Izbicki) oder die Reform der Hospitäler in Orvieto (Frank). Darüber hinaus wird auch der Reformer Cusanus in den Kontext des 15. Jahrhunderts gestellt (Naegle).
Der Beitrag von Isabelle Mandrella sei nicht zuletzt deswegen besprochen, weil er sich als einziger tatsächlich der in der Einleitung gestellten Frage annimmt: "Reformhandeln und spekulatives Denken bei Nicolaus Cusanus. Eine Verhältnisbestimmung". Dabei versucht Mandrella aber keineswegs einen Blick von außen, sondern greift vielmehr anhand von drei Themenkomplexen die Verhältnisbestimmung auf, die Cusanus selbst vorschlägt. Im ersten Teil arbeitet sie heraus, dass Cusanus die Alternative zwischen "vita activa" und "vita contemplativa" bewusst unterlaufe (40). Denn es geht ihm darum, auch das intellektuelle Leben als ein praktisches zu erweisen und eine falsche Form der "vita activa" auszuschalten, welche die "wahre intellektuelle Aufmerksamkeit und Ausrichtung auf den einen Ursprung aus dem Blick verliert" (41). Im zweiten Teil zeigt Mandrella auf, dass Cusanus dem Terminus des "Neuen" eine Hochschätzung widerfahren lässt, die mit seiner kreativen Anthropologie verbunden ist: Der Mensch als Schöpfer, Erfinder und Gestalter ist ein secundus deus; diese Schöpfertätigkeit des Menschen zielt aber nicht nur auf Produkte der artes, sondern umgreift auch und gerade den intellektuellen Raum. Der dritte Bereich ist derjenige der wechselseitigen Verwiesenheit von Gehorsam und Freiheit.
Thomas Leinkauf legt mit "Renovatio und unitas. Nicolaus Cusanus zwischen Tradition und Innovation - Die Reformen des Möglichkeitsbegriffs" einen Beitrag vor, welcher nun ganz auf die philosophische Seite des Begriffspaars eingeht. Leinkauf vertritt die These, dass dasjenige, "was traditionell im Begriff des Wesens (essentia) gedacht wird, durch den Begriff des posse" bei Cusanus bestimmt ist (90). Leinkauf arbeitet damit luzide und konkret heraus, wie sich eine Dynamisierung des Seins-Begriffs in der frühen Neuzeit vollzieht. Gerade die detaillierte Analyse des Ternars "Können, Kraft, Ausdruck" (94ff.) bietet eine eindringliche Gedankenminiatur dazu.
Auffallend ist, dass alle Beiträge im Band einen Teil der vorliegenden Forschungsliteratur ignorieren. Um nur zwei Beispiele zu geben, die sich vermehren ließen: Die Cusanus-Lecture von Volker Leppin [1] fehlt ebenso wie klassische Verhältnisbestimmungen (wie zum Beispiel diejenige von Karl Jaspers in seinem Cusanus-Buch). Übersehen wird dabei auch, dass die eingangs von den Herausgebern gestellte Frage, auf die im strengen Sinne nur der Beitrag von Mandrella eingeht, keineswegs neu ist und bereits in demselben Sinne wie bei Mandrella, in expliziter Auseinandersetzung mit Karl Jaspers, der die Gegenthese vertritt, behandelt worden ist. [2]
Zwar führt der Band die Titelthematik im Sinne einer Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis von Reform bei Cusanus also nur begrenzt weiter und ist nicht immer auf dem Stand der Diskussion, aber er bietet historisch Ergiebiges und mit den Beiträgen von Mandrella und Leinkauf philosophisch Interessantes und Weiterführendes.
Anmerkungen:
[1] Leppin, Volker: "Cusa ist hie auch ein Lutheraner"? Theologie und Reform bei Nikolaus von Kues - eine evangelische Annäherung, Trierer Cusanus Lecture 15, Trier 2009.
[2] Reinhardt, Klaus / Schwaetzer, Harald: Mystik und Kirchenreform bei Nikolaus von Kues, in: Delgado, Mariano / Fuchs, Gotthard (Hgg.): Die Kirchenkritik der Mystiker. Prophetie aus Gotteserfahrung, Band II: Frühe Neuzeit, Stuttgart 2005, 39-57.
Harald Schwaetzer