Winson Chu: The German Minority in Interwar Poland, Cambridge: Cambridge University Press 2012, XXII + 320 S., 3 s/w-Abb, 3 Karten, ISBN 978-1-107008-30-4, GBP 55,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die deutsche Minderheit im Polen der Zwischenkriegszeit gehört zu den an sich gut beforschten Themen der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Umfangreiche Akteneditionen [1], Regionalstudien [2] und voluminöse thematische Studien zuletzt etwa zum Schulwesen und zur Publizistik [3] führen dazu, dass wir über kaum eine Gruppe im Polen der Zwischenkriegszeit so viel wissen wie über die deutsche Minderheit. Dennoch gibt es unerforschte Themen. Der US-amerikanische Historiker Winson Chu konzentriert sich in seiner Studie vor allem auf die deutsche Minderheit in der Stadt Lodz und in der Region um die Textilmetropole, nach der Abwanderung aus Posen und Pommerellen immerhin ca. ein Drittel der gesamten Minderheit. Zentrale Fragestellung ist, unter welchen Umständen und wie es den Minderheitenpolitikern gelang, die sozial, regional und politisch stark differenzierte deutsche Bevölkerung in einen nationalen Volksverband zu zwingen, also konkret, wie die "deutsche Volksgruppe" bereits vor 1939 im polnischen Staat geschaffen wurde.
Die Darstellung stützt sich neben der deutsch- und polnischsprachigen Literatur in etwa gleichem Ausmaß auf Archivalien in deutschen und polnischen Archiven und ist in sechs chronologisch-sachliche Abschnitte eingeteilt. Kapitel 1 behandelt den Einfluss des Weimarer Revisionismus auf die deutsche Minderheit und die Beziehungen zwischen deutschem demokratischen Staat und der Minderheit in Polen bis 1933. Kapitel 2 zeichnet die deutsche Minderheit in Posen und Pommerellen in ihren Organisationen und Parteien sowie die verdeckte Finanzierung durch die Weimarer Republik nach. Insgesamt gehören die ersten beiden Kapitel zum schwächeren Teil des Bandes, denn Chu kommt hier selten über die ältere deutsche Forschung zur Organisation und Finanzierung hinaus.[4] Die weitgehend unter Verzicht auf eine Akteursperspektive dargestellte Institutionengeschichte dient eher als Folie, vor der anschließend die abweichende Entwicklung in Lodz dargestellt wird.
Kapitel 3 behandelt die Geschichte der Lodzer Deutschen, wobei der Autor bis ca. 1900 zurückgreift. Dies ist zumindest für den Ersten Weltkrieg sinnvoll, denn durch die fast vierjährige Anwesenheit deutscher Truppen in der Stadt traten neue Akteure (Adolf Eichler) auf und entwickelten sich andere Wahrnehmungen. Chu zeichnet die Spaltung der Minderheit in sozialistische Parteien (Deutsche Sozialistische Arbeiterpartei in Polen, DSAP) und den Deutschen Volksverband (DVV) nach und beschäftigt sich in überzeugender Manier mit der Frage, inwieweit die deutsche Minderheit - zumeist vor der Entstehung eines deutschen Nationalstaats in das russländische Reich ausgewandert - sich denn überhaupt als "Deutsche" gefühlt hätte. Liberale Gruppierungen seien in den 1920er Jahren zunächst zwischen den Optionen zerrieben worden, erst ab 1929 sei mit dem Deutschen Kultur- und Wirtschaftsbund (DKuWB) eine auf Ausgleich angelegte Wirtschaftspartei entstanden.
Der Einfluss des nationalsozialistischen Deutschland auf die Minderheit wird in Kapitel 4 analysiert. Chu zeigt deutlich, dass infolge der spezifischen Struktur der Minderheit eine einfache Gleichschaltung auf Probleme stieß, die insbesondere in dem Konflikt zwischen der auf Aktivismus angelegten Jungdeutschen Partei (JP) und dem konservativ-traditionalistischen DVV mündete: Gerade wegen der Diversität der Minderheit sei ein Zusammenschluss zu einer Volksgruppe auf Widerstände gestoßen.
Kapitel 5 zeigt dies konkreter am Beispiel der Lodzer Region und zeichnet die dortige Sonderentwicklung nach: Infolge der fehlenden konservativen Eliten vor Ort orientierte sich in der Region der DVV deutlich stärker völkisch und brachte in Ludwig Wolff (1908-1988) einen Führer hervor, der mit seinem Anhang den gesamten DVV stärker in eine völkische Richtung drängte und in der Region die JP an Bedeutung übertreffen konnte. Durch eine intensive Propaganda einer "Volksgemeinschaft" und die Verächtlichmachung des "Lodzermenschen" als eines vaterlandslosen Gesellen habe die DVV den Sozialisten und dem DKuWB die Anhängerschaft streitig machen können.
Abgeschlossen worden sei dieser Prozess allerdings erst im Zweiten Weltkrieg und nach 1945, Kapitel 6 wird vom Autor mit "Lodzers into Germans?" überschrieben. Jedoch hätten die Lodzer Deutschen (weniger die Bewohner aus dem ländlichen Umfeld) trotz der Erfahrung der Deutschen Volksliste in Litzmannstadt und von Flucht und Vertreibung ein Eigenbewusstsein bewahrt, das zwischen den 1960er und 1980er Jahren in einer Revalorisierung des "Lodzermenschen" - nun als eine positive Figur der Völkerverständigung - gegipfelt habe.
Insgesamt ist die Darstellung durchweg fehlerfrei und von großer Kenntnis der deutschen wie der polnischen Literatur geprägt. Diskutabel ist sicherlich die These, die Lodzer Deutschen hätten durch ihre geringe Bildung und Anationalität die "dark side within" der deutschen Bevölkerung gebildet (158). Auch hätte die Analyse durch eine noch stärkere Konzentration auf die Lodzer deutsche Minderheit (hier nutzt der Autor nur einen Teil der Archivalien) noch stärker Forschungsprofil gewinnen können, während die Kapitel zu Posen und Pommerellen für den deutschen Spezialisten wenig Neues bieten. Deutlich neue Forschungserkenntnisse bringt Chu zu dem in der Literatur nicht gut erforschten politischen Aufstieg der JP, zu dem bisher gänzlich ignorierten bzw. als Verband von "Kollaborateuren" diffamierten DKuWB und generell zur Entstehung und Nationalisierung der deutschen Minderheit in Lodz.
An einem Punkt überzeugt die Darstellung nicht: Chu unterstellt den Lodzer Sozialisten bereits in den 1920er Jahren und fortan kontinuierlich ein nationalistisches Programm (130, 135, 218) und polemisiert hier mit der Darstellung von Petra Blachetta-Madajczyk.[5] Jedoch überzeugt die Polemik nicht, insbesondere, weil Chu den internationalistischen Flügel der DSAP und dessen Kooperation mit der jüdischen Arbeiterpartei "Bund" ausspart. Der führende Exponent dieser Richtung, der Sejmabgeordnete Emil Zerbe (1897-1954), wird nur dreimal beiläufig genannt. Zerbe überlebte den Krieg im Versteck und blieb nach 1945 in Polen. Sicherlich kann man die nationale Orientierung eines Teils der Lodzer Sozialisten hervorheben, jedoch sollte die auf Ausgleich angelegte Politik zumindest der Parteimehrheit noch 1938 nicht einfach unterschlagen werden.
Schließlich ist das reißerische Umschlagbild mit den Hakenkreuzfahnen auf der Straße ul. Piotrkowska in Lodz, die von deutschen Einheiten im September 1939 in Lodz verteilt wurden, sachfremd; auch hätte zumindest in einem Untertitel auf den Lodz-Schwerpunkt hingewiesen werden sollen.
Dies schränkt jedoch die Leistung der Monografie nicht ein, die unser Wissen über die Vielfalt der deutschen Minderheit in Polen in der Zwischenkriegszeit erheblich erweitert, die Nationalisierungsprozesse in Lodz erstmals beschreibt und von der deutschen und polnischen Forschung zukünftig gerade für eine stärkere Differenzierung des Blicks auf die deutschen Minderheit herangezogen werden sollte.
Anmerkungen:
[1] Rudolf Jaworski u.a. (Hgg.): Deutsche und Polen zwischen den Kriegen. Minderheitenstatus und "Volkstumskampf" im Grenzgebiet. Amtliche Berichterstattung aus beiden Ländern, 1920-1939. 2 Bde, München 1997.
[2] Mathias Niendorf: Minderheiten an der Grenze. Deutsche und Polen in den Kreisen Flatow (Złotów) und Zempelburg (Sępólno Krajeńskie) 1900-1939, Wiesbaden 1997; Richard Blanke: Orphans of Versailles. The Germans in Western Poland, 1918-1939, Lexington 1993.
[3] Ingo Eser: "Volk, Staat, Gott!" Die deutsche Minderheit in Polen und ihr Schulwesen 1918-1939, Wiesbaden 2010; Pia Nordblom: Für Glaube und Volkstum. Die katholische Wochenzeitschrift "Der Deutsche in Polen" (1934-1939) in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Paderborn 2000.
[4] Norbert Krekeler: Revisionsanspruch und geheime Ostpolitik der Weimarer Republik. Die Subventionierung der deutschen Minderheit in Polen, Stuttgart 1973.
[5] Petra Blachetta-Madajczyk: Klassenkampf oder Nation? Deutsche Sozialdemokratie in Polen? Deutsche Sozialdemokratie in Polen 1918-1939, Düsseldorf 1997.
Hans-Jürgen Bömelburg