Ulrike Schaper: Koloniale Verhandlungen. Gerichtsbarkeit, Verwaltung und Herrschaft in Kamerun 1884-1916, Frankfurt/M.: Campus 2012, 448 S., ISBN 978-3-593-39639-2, EUR 39,90
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Der Anspruch, Gerichtsbarkeit über die kolonisierte Bevölkerung auszuüben, war ein zentraler Bestandteil der Herrschaft im seit 1884 durch das Deutsche Reich kolonisierten Kamerun. Die Berliner Dissertation Ulrike Schapers will anhand der Verwaltungs- und Missionsakten in Berlin, Yaoundé und Basel analysieren, wie die Kolonialbeamten bei ihrer Herrschaftsausübung Gerichtsbarkeit für machtpolitische Zwecke funktionalisierten, wie kolonisierte Gesellschaften diese Gerichtspraxis für eigene Interessen nutzten und zu welchen Verflechtungen der Interessen und Rechtsformen es in Kamerun kam.
Von rechtsgeschichtlichen Arbeiten zum Kolonialrecht, mit denen sie hart ins Gericht geht, setzt sich Schaper nicht nur stilistisch ab (24). Das zeigt schon der erste von fünf Abschnitten des Buches, der den Aufbau und die Institutionen kolonialer Gerichtsbarkeit erörtert. Für Afrikaner gab es einen Instanzenzug von Kameruner Autoritäten ("Häuptlingsgericht") über das "Schiedsgericht" zum Gouverneur. Sie sollten unter Beachtung des "afrikanischen Rechts" ("local customs") urteilen, soweit dieses nicht gegen "zivilisatorische" Standards der Kolonialherren verstieß. Parallel dazu führten auch Kolonialbeamte zivil- und strafrechtliche Verhandlungen durch ("Palaver"), bei denen auf gleicher Rechtsgrundlage geurteilt wurde. Die Abgrenzung zwischen diesen Institutionen blieb (auch angesichts des ephemeren Charakters des Kolonialstaats) zweifelhaft. Doch dieser rechtliche Rahmen, seien es Normen oder Institutionen, wird von Schaper nur gestreift. Einzelne Bestimmungen oder Personen (abgesehen von den Dolmetschern), beleuchtet sie fast nicht. Ungenauigkeiten trüben die Lesefreude. [1] Die Rechtsstreitigkeiten der europäischen Bevölkerung untereinander und der für sie zuständige Instanzenzug fehlen in der Analyse ebenso wie die Militärgerichtsbarkeit.
Der zweite Abschnitt analysiert, wie die Kolonialverwaltung das Recht für ihre Herrschaftsausübung instrumentalisierte. Zentral für die Segregation in "Schwarz" und "Weiß" - die "duale Kolonialrechtsordnung" - war der "Rechtsbegriff des Eingeborenen", für den eine Legaldefinition fehlte. Eine deutsche Besonderheit lag in dieser Trennung nicht (79). Dass der zu kolonisierenden Bevölkerung ihr "afrikanisches Recht" belassen werden sollte, war eine politische Maßnahme, die dem Machterhalt diente. Bestehende Strukturen sollten pragmatisch in die Herrschaftsordnung einbezogen werden, auch wenn dies zuweilen mit dem Zivilisierungsanspruch kollidierte. Diese Politik des "ruhigen Übergangs" ermöglichte es einigen chiefs, ihre Autorität zu festigen und die Umsetzung der "neuen" Rechtsordnung vor Ort zu beeinflussen. Die Kolonialverwaltung behielt sich vor, Urteile der chiefs aufzuheben. Kolonialrecht diente auch legitimatorischen Zwecken, doch blieb es bei der "kalkulierten Rechtsunsicherheit" (140; 286) für die lokale Bevölkerung. Schaper spricht zwar von einer "Fülle an bürokratischen Vorgaben" (150), doch worin diese bestanden und was sie durch wen regeln sollten, wird nicht analysiert: Verordnungen werden nur selten erwähnt oder zitiert. [2] So bleibt Schapers Text zwar thesen- und theoriefreudig, aber angesichts der Fülle des Archivmaterials merkwürdig losgelöst vom Untersuchungsgegenstand: der "Gerichtspraxis" in Kamerun. Es mutet unverhältnismäßig an, wenn die Diskussionen der Sekundärliteratur, mit denen das Buch gespickt ist, ausführlicher geraten als die Darstellung des Kameruner Falls anhand des Quellenmaterials.
Näher an die Kameruner Verhältnisse wird der Leser im dritten Abschnitt des Buches herangeführt. Er analysiert die Bedeutung von Gerichtsverhandlungen für die Aushandlung der Machtverhältnisse zwischen Kolonialbeamten und lokaler Bevölkerung. Der agency letzterer gibt Schaper viel Raum. Während die Beamten ihre Autorität unter Beweis stellen wollten und vor Ort Strafen vollziehen ließen, konnten Afrikaner mit einem "Nichterscheinen vor Gericht" antworten, oder aber sie eigneten sich Kenntnisse des deutschen Rechts an und nutzten dieses zu eigenen Zwecken. Der bekannte Fall der "Duala Petitionen" wird hier erörtert. In der "paradigmatischen Figur" des Dolmetschers (204) wird die Abhängigkeit der Beamten von afrikanischen Eliten deutlich. Am Beispiel zweier Biographien zeigt Schaper, wie es diesen Mittlern gelang, eigene Interessen innerhalb der Gerichtsverhandlungen zu verfolgen und die Urteile zu beeinflussen.
Den Versuchen der Kolonialverwaltung, das benötigte "Wissen" zu produzieren, ist Abschnitt vier gewidmet. Dem "Rechtswissen als Ressource in der kolonialen Situation" wurde von "Kolonialwissenschaftlern" zwar eine große Bedeutung für den deutschen Machterhalt zuerkannt. Doch maßen Kolonialbeamte "vor Ort" derartigen 'Wissensproduktionen' wenig Gewicht bei. Die Auswirkungen der Forschung wie auch der 'Kolonialausbildung' auf die Herrschaftspraxis blieben gering (280).
Den Interaktionen und Verflechtungen der unterschiedlichen in Kamerun zulässigen Gerichtsbarkeiten geht der fünfte und letzte Abschnitt nach. Zuständigkeitskonflikte der Institutionen und forum shopping der Streitenden auf der Suche nach der "geeignetsten" Instanz legen offen, dass der Kolonialstaat mitnichten seinen Anspruch letztgültiger Streitbeilegung durchsetzen konnte. Die "duale Rechtsordnung" ging vor Ort mitunter in hybride Strukturen über. Die gewünschte Segregation wurde durch Rechtsstreitigkeiten zwischen Afrikanern und Europäern unterlaufen.
Hier zeigt sich einmal mehr, dass Schaper das 'Wie' und 'Warum' von Recht und Wissen hinlänglich in den kolonialen Kontexten erörtert. Aber 'was' da gewusst, 'was' an Recht gesprochen wurde und mit welchen Argumenten, diese 'materiellen' Fragen beantwortet das Buch so gut wie nicht. Die Schwierigkeiten der Beamten, 'Wissen' über afrikanisches Recht zu erlangen, stellt Schaper dar. Da Urteile aber gleichwohl gesprochen wurden, fällt es dem Leser schwer, deren Grundlage nachzuvollziehen; zumal die Verwaltung "rechtsstaatliche Prinzipien [...] nicht ignorieren konnte oder wollte" (62). Wie ertragreich eine solche inhaltliche Analyse der Gerichtspraxis sein kann, zeigt sich am letzten Kapitel zur kolonialen Kontrolle "'wilder' Sexualität", in dem die Schwierigkeiten eines kolonialen Eherechts erörtert werden. Die präzise Untersuchung einzelner Streitfälle vor Gericht macht deutlich, wie Wertvorstellungen aufeinander prallten und wie sich aus dieser komplexen Gemengelage "innerhalb des pluralen Gerichtssystems [...] Möglichkeiten für Frauen eröffneten" (380).
Hatte die Einleitung den Eindruck erweckt, es ginge um die Gerichtspraxis, die anhand von "nicht-strafrechtlichen" Fällen analysiert würde (26), so stellt man am Ende fest, dass die Praxis dieser Fälle (abgesehen vom Eherecht) nicht Gegenstand der Analyse war. Wie viele Rechtsprechungsinstitutionen von kolonialen Gnaden gab es überhaupt? Welche Streitgegenstände wurden dort, abgesehen vom Eherecht, noch verhandelt? Zeigte sich bis 1915 eine kolonialgerichtliche Verdichtung und welche soziale Relevanz hatte dies für die rund vier Millionen Einwohner Kameruns? Hier hätte man sich klärende Übersichten gewünscht. Ein Register vermisst man schmerzlich.
Es handelt sich bei dieser Arbeit um eine dichte Interpretation und Analyse des deutschen Kolonialrechts. Über postkoloniale Forschungsdebatten ist sie wohlinformiert. Nur führt das zu einem Zielkonflikt: Wer etwas über die koloniale Gerichtsbarkeit und deren Praxis in Kamerun hatte erfahren wollen, sieht sich über weite Strecken enttäuscht.
Anmerkungen:
[1] Dass Theodor Seitz schon 1896 zum Gouverneur von Kamerun gemacht wird (356; tatsächlich erst 1907) ist wenig gravierend. Aber dass das 1907 neugegründete Reichskolonialamt von einem "Kolonialdirektor" geführt worden sein soll (57; anstatt von einem Staatssekretär), wo doch vier Seiten weiter von einer Rede des Kolonialdirektors Kayser 1896 die Rede ist, wirkt ebenso verwirrend wie die Erwähnung des Reichskolonialamts im Jahr 1906. Wenig überzeugt auch eine Deutung, die die Unterstellung des Kolonialamts unter den Reichskanzler als eine "Besonderheit" mit "der hybriden Stellung [der Kolonien] zwischen In- und Ausland" begründet (57). Tatsächlich unterstand jeder Leiter eines Reichsamts, der Staatssekretär, dem Chef der Reichsleitung, dem Reichskanzler.
[2] Die in den Fußnoten meist angegebene Textsammlung fehlt im Literaturverzeichnis. Es handelt sich wahrscheinlich um: Julius Ruppel: Die Landesgesetzgebung für das Schutzgebiet Kamerun. Berlin 1912.
Jakob Zollmann