Iver B. Neumann: At Home with the Diplomats. Inside a European Foreign Ministry (= EXPERTISE), Ithaca / London: Cornell University Press 2012, XII + 216 S., ISBN 978-0-8014-7765-2, EUR 20,60
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Aktengläubigkeit kann für Diplomatiehistoriker zur déformation professionnelle werden. Wer dem Buchstaben vertraut, ohne die Strukturen zu kennen, in denen diplomatisches Wissen entsteht, und die conditio humana der diplomatischen Akteure vernachlässigt, schreibt leicht an den historischen Prozessen vorbei.
Das vorliegende Buch ist diesen Themen gewidmet. Der Politologe Ivar B. Neumann ist kein Karrierediplomat, war aber mehrmals mit Zeitverträgen im norwegischen Außenministerium beschäftigt, u. a. als Redenschreiber im Planungsstab, und ist zurzeit Forschungsdirektor des Norwegischen Instituts für Außenpolitik (Norsk Utenrikspolitisk Institutt, NUPI), eines regierungsnahen Think Tanks. In einer glücklichen Kombination trifft also Insider-Wissen auf wissenschaftliche Reflexion, die vor allem aus Anthropologie und Soziologie schöpft. Im methodischen Zentrum steht Foucaults Lehre vom Diskurs.
Neumann unterscheidet treffend zwischen zwei identitätsstiftenden Erzählungen der diplomatischen Existenz: Da ist zum einen der "heroische", Verhandlungslösungen stiftende und sich dabei als Medium politischer Weisungen seiner eigenen Meinung entsagende Diplomat auf Auslandsposten. Sein ungeliebter Zwilling ist der Texte produzierender Ministerialbürokrat in der Zentrale. Dort entsteht handlungsanleitendes diplomatisches Wissen in einem Kreislauf von Diskurs und Praktiken, der von bürokratischen Arbeitsprinzipien angetrieben wird. Aus der Natur der Sache heraus ist dieses Wissen selbstaffirmativ, resistent gegenüber Innovationen und konsensual: Die Wissensproduktion einzelner Systemstellen muss inhaltlich immer für den ganzen Apparat akzeptabel sein. Für Praktiker sind diese Erkenntnisse Binsenweisheiten. Neumann gelingt aber eine handliche Konzeptionalisierung für den akademischen Gebrauch.
Anzumerken ist an dieser Stelle, dass der Geschäftsgang des norwegischen Außenministeriums, dessen Schilderung bei Neumann als Sinnbild bürokratischer Selbstreferentialität offenbar für sich selbst sprechen soll, für deutsche Verhältnisse unfassbar einfach und direkt ist.
Der Bürokratieschock bei der Rückkehr von einem Auslandsposten in die Zentrale ist nicht nur in Norwegen ein beliebter Topos des innerdienstlichen Small Talks. Auch die lesenswerten "Valedictory Despatches" scheidender britischer Botschafter breiten das ganze Spektrum der Frustration von Diplomaten "auf Posten" über die Pedanterie der "Mandarine von Whitehall" aus. [1] Identitätsstiftende Erzählungen reflektieren aber nicht die ganze Realität: Die Routinearbeit insbesondere in den nichtpolitischen Abteilungen großer Auslandsvertretungen und vor allem die Mitwirkung in multilateralen Organisationen kann stark bürokratisiert sein. Im Grunde ist die gesamte Diplomatiegeschichte seit der Einführung des Telegraphen, der die Auslandsposten erstmals wirkungsvoll an die Zentrale band, eine Geschichte der Bürokratisierung. Dass sich das diplomatische Selbstverständnis nach Neumanns überzeugendem Befund immer noch an klassischen bilateralen politischen Verhandlungen festmacht, ist bezeichnend und ruft nach weiterer Untersuchung über die Grenzen dieser im Grunde essayistischen Studie hinaus.
Dafür behandelt Neumann noch die Sozial- und Genderstruktur des norwegischen Auswärtigen Dienstes, mit dem nicht überraschenden Befund, dass dieser lange eine Domäne der männlichen Oberschicht war, und es für weibliche Diplomaten, auch in Abhängigkeit von kulturellen Normen des Gastlands, bis heute oft problematisch ist, geschlechtliche und professionelle Identität zu vereinbaren. Weitere Ausführungen gelten den Wurzeln der heutigen Diplomatie im Mittelalter und sollen einen unter Diplomaten identitätsstiftenden Mythos vom maßgeblichen Ursprung des Gewerbes in Antike und Renaissance dekonstruieren, rezipieren die mediävistische Forschung aber nur punktuell. Diese beiden Teile sind mit dem Hauptargument eher lose verbunden.
Neumann hat verdienstvoll den bürokratischen Charakter außenpolitischer Entscheidungsfindung in aktuelle theoretische Formeln gebracht und den Einfluss des Selbstverständnisses der Akteure auf diesen Diskus herausgearbeitet: Emblematisch für das diplomatische Geschäft steht die Kanzlei mindestens gleichauf mit der Gesandtschaft. Dieser Befund lässt sich auf andere Auswärtige Dienste übertragen. Historiker können daraus wichtiges quellenkundliches Rüstzeug für die Interpretation diplomatischer Dokumente schöpfen, wobei sie die zahlreichen plastischen Beispiele aus Neumanns eigener Erfahrung möglicherweise instruktiver finden werden als deren Konzeptionalisierung.
Anmerkung:
[1] Auswahledition solcher Berichte für ein breites Publikum unter dem Gesichtspunkt des (beträchtlichen) Unterhaltungswerts: Matthew Parris / Andrew Bryson: Parting Shots. London 2011.
Holger Berwinkel