Jens Roselt / Ulf Otto (Hgg.): Theater als Zeitmaschine: Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld: transcript 2012, 260 S., ISBN 978-3-8376-1976-8, EUR 27,80
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Die Vergangenheit ist unwiederholbar, so sehr sich dies die Menschen manchmal auch wünschen mögen. Gerade die bildenden Künste haben aber zwei produktive Strategien entwickelt, um sie auf visuellem Wege in die Gegenwart zurückzuholen. [1] Während die eine versucht, mithilfe von Relikten, Überresten und Spuren die Vergangenheit in der Jetztzeit zu vergegenwärtigen, bemüht sich die andere, die Geschichte durch die Wiederholung vergangener Ereignisse in der Gegenwart erfahrbar werden zu lassen. Zu letzterer Möglichkeit gehört das sogenannte Reenactment, d.h. die verkörperte Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse. Die Ursprünge dieser Praxis finden sich in der Populärkultur, etwa in Nachstellungen berühmter Schlachten durch kostümierte Laiendarsteller, in Living-History-Museen und Historienumzügen, doch seit etwa Ende der 1990er-Jahre hat sich ihrer insbesondere die Gegenwartskunst in unterschiedlichen Ausformungen bedient. Deutlich wird dies nicht nur in der seither stetig ansteigenden Anzahl künstlerischer Arbeiten, sondern auch in der Häufigkeit, mit der Reenactments in den letzten Jahren zum Gegenstand von Ausstellungen geworden sind. [2]
Im Anschluss daran hat unlängst auch die Wissenschaft begonnen, das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus zu untersuchen. Insbesondere in der Kunstgeschichte sowie der Theater- und Filmwissenschaft sind zunehmend Beiträge zum Reenactment entstanden. Fatalerweise hat dies zu einer nahezu inflationären Verwendung des Begriffs geführt, die dessen Gehalt fast bis zur Bedeutungslosigkeit ausgeweitet hat. Der von den beiden Hildesheimer Theaterwissenschaftlern Jens Roselt und Ulf Otto herausgegebene Sammelband Theater als Zeitmaschine: Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven setzt genau bei diesen Feststellungen an und möchte entsprechend zu einem differenzierteren Verständnis des Phänomens beitragen. Dabei sehen Roselt und Otto die Stärke des Reenactment-Begriffs vor allem darin, "bestehende kunst- und kulturwissenschaftliche Diskurse zu enthierarchisieren und dabei sowohl kategoriale als auch disziplinäre Grenzen munter zu ignorieren." (8) Statt den Reenactment-Begriff vorschnell auf eine verbindliche Definition einzuengen, setzen die in dem Band versammelten Beiträge zu Recht darauf, ihn aus unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen Disziplinen in den Blick zu nehmen. Diesem Anspruch wird der vorliegende Sammelband - bei dem es sich um einen der ersten seiner Art im deutschsprachigen Raum handelt - auch gerecht.
Der Band versammelt zwölf Beiträge von Theater-, Kunst-, Medien- und Filmwissenschaftlern, denen Roselt und Otto eine kurze Einleitung vorangestellt haben. Die Beiträge sind nicht in thematische Blöcke geordnet, sondern von den Herausgebern lediglich in eine konsistente Reihenfolge gebracht worden. Die behandelten Formen des Reenactments unterscheiden sich in zeitlicher, inhaltlicher und motivationsbezogener Hinsicht, aber auch bezüglich der mit ihnen verbundenen sozialen und medialen Praktiken zum Teil erheblich voneinander. Auch die entsprechenden Texte des Bandes weichen hinsichtlich ihrer disziplinären und methodologischen Zugänge sowie ihres Umfanges teilweise deutlich voneinander ab. Nichtsdestotrotz bietet dieser interdisziplinäre Zugang gerade den Vorteil, dass sich im Laufe der Lektüre das Bedeutungsspektrum des Reenactment-Begriffs in seiner ganzen Breite zeigen kann.
Die meisten Texte stimmen darin überein, dass im Kern des Reenactments das eigene Erleben steht, mit dem sich die Teilnehmer in die Vergangenheit zurückversetzen. Im Idealfall führt die Verkörperung sogar zu einer immersiven Erfahrung, die häufig unter dem Begriff des "magische[n] Momente[s]" (237) verhandelt wird. Ein ebenfalls wiederkehrendes Motiv vieler Beiträge ist die Aufhebung sowohl der Distanz zwischen "aktiven Darstellern und passiven Zuschauern" (10) als auch zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Verbunden damit ist eine Absage sowohl an "nicht-psychologische Darstellungsstrategien" als auch an "lineare [...] Geschichtsmodelle" (10).
Die Frage, wie sich die Performance-Kunst, das Theater und der Tanz tradieren lassen, gehört zu einem weiteren Themenkomplex, der in mehreren Aufsätzen untersucht wird. Insbesondere Annemarie Matzke und Sandra Umathum zeigen anhand von Boris Charmatz' Inszenierung 50 ans de danse (2009) und Marina Abramovics Seven Easy Pieces (2005) mehr oder weniger produktive Auswege aus diesem Dilemma. Einig sind sich die meisten Autoren darin, dass Reenactments via Medienwechsel ihre eigene "mediale Verfasstheit" (10) thematisieren. Ausgespart bleibt dabei leider eine Diskussion der Frage, warum Reenactments häufig weniger an der Wiederholung eines ihm zugrundeliegenden Ereignisses interessiert sind als an dessen "mediale[r] Ästhetik". [3] Als weiteres Desiderat des vorliegenden Bandes erscheint die Frage nach der Differenzerzeugung durch Wiederholung, wie sie für die Praxis des Reenactments konstitutiv zu sein scheint. Ansatzweise wird zwar in den Beiträgen Erika Fischer-Lichtes und Ulf Ottos diese Problematik durchaus thematisiert, allerdings bei weitem nicht erschöpfend. Milo Rau befasst sich anhand von Rod Dickinsons Milgram-Reenactment (2002) und Artur Zmijewskis Video 80064 (2004) mit der Frage, worin das Neue von solchen "kalten, labormässigen" (73) Wiederholungen besteht, vermag damit die Differenz erzeugende Wirkung von Reenactments aber nicht zu entkräften. Resümiert man die im Band untersuchten Beispiele abschließend nochmals, so tritt immer klarer hervor, dass Reenactments häufig in der Geschichte tabuisierte Themen, Personen oder Aspekte behandeln. Das Reenactment stellt in dieser Hinsicht den Künstlern also eine Möglichkeit bereit, Themen und Bereiche zu thematisieren, die nicht dem Zwang historischer Faktizität unterworfen sind, sondern Spielräume für die historische Imagination eröffnen. [4] Ulf Otto trägt zudem mit seinem Beitrag dazu bei, die Unterscheidung zwischen populärkulturellen und künstlerischen Reenactments besser zu fassen, indem er den Rezeptionskontext als den hierfür entscheidenden Faktor herausstellt (249).
Neben den angedeuteten Punkten hätten sich auch einige weitere für eine Diskussion angeboten. So wird zum Beispiel den tieferen Ursachen für die Popularität von Reenactments nicht näher nachgegangen. Die Frage, ob Reenactments als Symptom für einen aktuellen "affective turn" in den Kulturwissenschaften gewertet werden können oder ob sie aufgrund ihrer "transformative[n] Kraft" (48) so beliebt sind, wird nur gestreift. [5] Kaum diskutiert wird im Sammelband zudem, ob und inwiefern Reenactments als affirmativ oder kritisch betrachtet werden können. Man kann auch bedauern, dass kaum Bilder in dem Band abgedruckt worden sind. Nicht umsonst wird in zahlreichen Beiträgen immer wieder unterstrichen, wie wichtig visuelle Dokumente als Vorbilder für Reenactments, aber auch hinsichtlich ihrer nachträglichen Dokumentation sind. Überdies hätte man dem Band ein sorgfältigeres Lektorat gewünscht.
Insgesamt bietet der Band dennoch einen überaus informativen und griffigen kulturwissenschaftlichen Einblick in Formen, Dimensionen und Eigenschaften des Reenactment-Begriffs. Sein hauptsächliches Verdienst muss dabei in seiner interdisziplinären Ausrichtung gesehen werden, die verschiedenste wissenschaftliche Blickwinkel vereint und einander gegenüberstellt. Dass die Sammlung zudem Texte sowohl von Wissenschaftlern, als auch von Künstlern und Regisseuren enthält, trägt weiter zu diesem Perspektivreichtum bei.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Peter Geimer / Michael Hagner (Hgg.): Nachleben und Rekonstruktion: Vergangenheit im Bild, Paderborn / München 2012.
[2] Vgl. u.a.: A Little Bit of History Repeated, Kunst-Werke, Berlin (2001), A Short History of Performance, Whitechapel Art Gallery, London (2002/2003), Life, Once More. Forms of Re-enactment in Contemporary Art, Witte de With, Rotterdam (2005), Ahistoric Occasion: Artists Making History, Massachusetts Museum of Contemporary Art, North Adams (2006-2007), Not Quite How I Remember It, Power Plant, Toronto (2007).
[3] Stefanie Kleefeld u.a.: Vorwort, in: Texte zur Kunst (2009), Nr. 76, 4f.
[4] Vgl. Dipti Desai / Jessica Hamlin: Artists in the realm of Historical methods. The Sound, Smell, and Taste of History, in: Diesn. / Rachel Mattson: History as Art, Art as History. Contemporary Art and Social Studies Education, New York 2009, 50.
[5] Vgl. Vanessa Agnew: History's Affective Turn: Historical Reenactment and its Work in the Present, in: Rethinking History 11 (2007) Nr. 3, 299-312.
Cornelius Krell