Michael Gehler (Hg.): Akten zur Südtirol-Politik 1945-1958. Gescheiterte Selbstbestimmung. Die Südtirolfrage, das Gruber-De Gasperi-Abkommen und seine Aufnahme in den italienischen Friedensvertrag 1945-1947 (= Akten zur Südtirol-Politik 1945-1958. Eine Aktenedition in sechs Bänden; Bd. 1), Innsbruck: StudienVerlag 2011, 655 S., ISBN 978-3-7065-4367-5, EUR 79,00
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Im Umfeld des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck ist seit 1987 sehr viel zu Südtirol geforscht und publiziert worden. [1] 2006 hat man in Innsbruck mit einem Editionsprojekt von Dokumenten der für Südtirol so entscheidenden Jahre von 1945 bis 1969 - vom Kriegsende bis zur Einigung über eine Provinzialautonomie - begonnen. Rolf Steininger, der langjährige Institutsvorstand, und Michael Gehler, der ebenfalls lange in Innsbruck gewirkt hat und seit 2006 Direktor des Instituts für Geschichte der Universität Hildesheim ist, haben sich die Arbeit aufgeteilt. Steininger bearbeitet die Jahre 1959 bis 1969, während sich Gehler den Zeitraum von 1945 bis 1958 vorgenommen hat. Band 1 ist nun erschienen.
Die von Gehler ausgewählten Quellen führen zurück in die Jahre 1945 bis 1947, als es zunächst um die staatliche Zugehörigkeit des Grenzlandes ging und ab 1946 dann um eine Autonomielösung. Die edierten Akten der Verwaltung, offizielle Texte, aber vor allem auch Privatbriefe repräsentieren sehr gut das Klima der damaligen Jahre, die anfangs von Aufbruch und großen Erwartungshaltungen geprägt waren. Deutlich werden die personellen Kontinuitäten nach 1945, wie etwa im Falle von Wolfgang Steinacker, der im Umfeld des Gauleiters von Tirol schon als "Südtirolexperte" gedient hatte, oder Eduard Reut-Nicolussi, ein Veteran des Kampfes um Südtirol, der sich als Politiker bereits in den 1920er Jahren gegen den italienischen Faschismus engagiert hatte. Auf italienischer Seite wurde Senator Ettore Tolomei, der "Erfinder des italienischen Südtirol", reaktiviert. [2]
Südtirol glich 1945 einem Niemandsland. Nicht zuletzt aufgrund der deutschen Sonderkapitulation in Norditalien (letztes Hauptquartier der Heeresgruppe C und der SS war Bozen) teilte sich die von den NS-Behörden eingesetzte Provinzialverwaltung zunächst die Arbeit mit dem italienischen Partisanenkomitee. Die eigentliche Macht lag aber bis Ende 1945 in der Hand der US-amerikanischen Militärverwaltung.
Der Band beginnt mit einem Bericht von Hans Egarter, dem Leiter einer wichtigen Südtiroler Widerstandsgruppe, worin er die antinazistische Einstellung der Südtiroler sowie die zwanzig Jahre währende Unterdrückung der "deutsch-österreichischen Bevölkerung" durch den italienischen Faschismus betont. Die Akten zeigen sehr deutlich, wie groß 1945 die Hoffnungen in Innsbruck, Wien und Bozen auf eine Wiedervereinigung Tirols waren. Bald aber mussten die Südtiroler und die Österreicher ihre Hoffnungen und Forderungen sukzessive zurückschrauben. (11)
Das Abkommen zwischen dem Tiroler Karl Gruber (damals österreichischer Außenminister) und dem Trentiner Alcide Degasperi (damals Ministerpräsident Italiens) vom 5. September 1946 steht im Mittelpunkt der Darstellung in den Akten. Am Rande der Pariser Konferenz vom Juli bis Oktober 1946, auf der der Friedensvertrag mit Italien ausgehandelt wurde, besprach man auch die Zukunft Südtirols. Italien verlor nach 1945 weite Gebiete wie die Küstenstädte in Istrien und alle Kolonien; die territoriale Zukunft von Triest blieb unklar. Einen Verlust der Brennergrenze konnte Italien vermeiden, es sollte sich aber mit Österreich wegen der Südtirolfrage an einen Tisch setzen. In der Vereinbarung zwischen Gruber und Degasperi wurde letztlich eine Autonomie für die deutschsprachige Bevölkerung und eine Revision der Hitler-Mussolini Vereinbarung vom Juni 1939 zur Aussiedlung der Südtiroler in Aussicht gestellt. Als Folge dieses Abkommens von 1939 "optierten" über 80 Prozent der Südtiroler für die reichsdeutsche Staatsbürgerschaft und damit letztlich für die Umsiedlung in das Deutsche Reich. Durch den Kriegsverlauf kam die begonnene Umsiedlung schon 1943 zum Stillstand; aber bei Kriegsende war der staatsrechtliche Status der Südtiroler Optanten für Deutschland umstritten. Zumeist wurden sie entweder als deutsche Staatsbürger oder als Staatenlose angesehen. Vor dem Hintergrund der millionenfachen Vertreibung Deutscher und "Volksdeutscher" aus ganz Zentral- und Osteuropa kam der Wiedererlangung der italienischen Staatsbürgerschaft für die Südtiroler Optanten für Deutschland eine zentrale Bedeutung zu. Durch die Aufnahme des Pariser Abkommens in den Friedensvertrag der Alliierten mit Italien war Österreich zudem in der Lage, die Südtirolfrage zu internationalisieren. Dies schuf die rechtliche Basis für die Wiener Regierung, diese 1960/61 vor die Vereinten Nationen zu bringen.
Dennoch, die Maximalforderung der Selbstbestimmung wurde 1946 nicht erreicht, die schwächere Position Österreichs wurde offenbar. Was waren die Gründe dafür? Wurde Südtirol zu einem ersten Opfer des Kalten Krieges [3] oder waren andere Gründe ausschlaggebend? Laut Gehler spielte die Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR zumindest 1945/46 noch keine so entscheidende Rolle. [4] Der Herausgeber verweist vielmehr auf die damals noch ungewisse Zukunft Österreichs, aber auch "Unzulänglichkeiten der österreichischen und Tiroler Südtirolpolitik" (11). Österreich war 1945 bis 1955 in einer eigenartigen Position: "Es hatte weder einen Krieg erklärt noch einen geführt bzw. an einem solchen teilgenommen, war aber von 1938 bis 1945 Teil des nationalsozialistischen Deutschland gewesen. Es war nicht besiegt, aber befreit, weder Verbündeter noch Siegerstaat, aber auch kein Feindstaat." (10) Es bekam 1946 keinen Friedensvertrag wie Italien, sondern erlangte erst mit dem sogenannten Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 seine volle Souveränität zurück.
Langfristig entpuppte sich das Gruber-Degasperi-Abkommen als "Magna Charta für Südtirol" (Steininger). Das war damals aber noch nicht absehbar, und die Schwächen und Mängel im Übereinkommen wurden rasch offensichtlich. Die Hoffnung einer Autonomie Südtirols unter Ausschluss des italienischsprachigen Trentino erfüllte sich nicht. In vielen Fällen setzte sich die Italienisierungspolitik gegenüber Südtirol fort und führte zu einer Zuspitzung der Lage in den 1950er Jahren.
Die von Gehler edierten Akten und Quellen betreffen besonders die österreichische Südtirolpolitik und die Südtiroler Sichtweise. Dazu wurden deutschsprachige Akten aus dem Staatsarchiv in Wien und dem Tiroler Landesarchiv, Akten und Nachlasspapiere der Südtiroler Volkspartei, aber auch einige Berichte des US-amerikanischen Nachrichtendienstes SSU verwendet. Was in diesem Band fehlt - der Herausgeber weist in der Einleitung auch ausdrücklich darauf hin -, ist die italienische Seite. Italienische Behörden und Historiker haben bisher noch keine italienischen Akten zur Südtirolfrage auf breiter Ebene veröffentlicht. Versuche einer Zusammenarbeit zwischen Innsbruck und Rom sind nicht über die Kontaktphase hinausgekommen. Die Aufarbeitung der italienischen Sichtweise bleibt ein Desiderat. Leider wurden bei der Übersetzung von Dokumenten die Originalfassungen nicht in End- oder Fußnoten wiedergegeben. Da es sich hier nur um eine begrenzte Zahl von Texten in englischer und italienischer Sprache handelt, wäre das leicht umsetzbar gewesen.
Von diesen ganz wenigen Mankos einmal abgesehen, handelt es sich um eine insgesamt sehr nützliche und für alle, die sich für Südtiroler Zeitgeschichte interessieren, lesenswerte Aktenedition. Ein sorgfältig editiertes Sach- und Personenregister runden den gelungenen Band ab und machen ihn nicht zuletzt als Nachschlagewerk sehr geeignet.
Anmerkungen:
[1] Für eine ausführliche Forschungsdokumentation zu Südtirol vgl. http://www.uibk.ac.at/zeitgeschichte/publikationen/ (aufgerufen am 2. März 2013).
[2] Vgl. Sergio Benvenuti / Christoph von Hartungen (Hgg.): Ettore Tolomei (1865-1952). Un nazionalista di confine. Die Grenzen des Nationalismus, Trento 1998; Maurizio Ferrandi: Ettore Tolomei: l'uomo che inventò l'Alto Adige, Trento 1986.
[3] Vgl. Rolf Steininger: Los von Rom? Die Südtirolfrage 1945/1946 und das Gruber-De-Gasperi-Abkommen, Innsbruck 1987; Rolf Steininger: Südtirol zwischen Diplomatie und Terror 1947-1969, Bozen 1999.
[4] Vgl. Michael Gehler: Verspielte Selbstbestimmung? Die Südtirolfrage 1945/46 in US-Geheimdienstberichten und österreichischen Akten. Eine Dokumentation, Innsbruck 1996 (zweite Auflage 2005).
Gerald Steinacher