Rezension über:

Len Scales: The Shaping of German Identity. Authority and Crisis, 1245-1414, Cambridge: Cambridge University Press 2012, XVI + 620 S., 4 Karten, 1 Tabelle, ISBN 978-0-521-57333-7, EUR 80,00
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Rezension von:
Heribert Müller
Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Jessika Nowak
Empfohlene Zitierweise:
Heribert Müller: Rezension von: Len Scales: The Shaping of German Identity. Authority and Crisis, 1245-1414, Cambridge: Cambridge University Press 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 5 [15.05.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/05/22160.html


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Len Scales: The Shaping of German Identity

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Die Quintessenz des Buchs lässt sich mit dem Autor in drei Worten zusammenfassen: "Germany came first" (535) und solch griffige Formel um die Feststellung ergänzen: "Late medieval Germans [...] suffered less from a poverty than a surfeit of identity" (524). Doch schon die Höhe beider Seitenzahlen zeigt, welch langer Weg es hin zu solcher Kürze war. Denn Scales handelt sein Thema mit stupender Gelehrsamkeit in allen Facetten ab, breitet Belege und Beispiele in Fülle aus, ob es nun um die "Urväter" Caesar und Karl den Großen oder um die Ausformung staatlich-administrativer Strukturen auf Territorialebene bei zugleich schwachem institutionellen Unterbau der Königsgewalt geht, um Polyzentrismus und fehlende Hauptstadt, um Verkehrsnetze und ökonomische Potenz, um die Sonderfälle Deutscher Orden und Hanse oder auch um einschlägige Autoren wie etwa Alexander von Roes, Lupold von Bebenburg, Konrad von Megenberg und Dietrich von Niem, um Ethnizität, kulturelle Diversität und terminologische Probleme oder um Grenzlandpatriotismus und Endzeitprophetien und vieles andere mehr. Bisweilen droht in der Detaildichte ein wenig der Überblick verloren zu gehen, und man mag sich fragen, ob anglophone Studierende das mit elf, ihrerseits wenig untergliederten Großkapiteln zudem nicht unbedingt benutzerfreundliche Werk in toto studieren werden. Hier scheint eher eine gelehrte Tradition deutscher Provenienz durchzuschimmern als jene kurz und konzis auf den Kern fokussierte angelsächsische, der wir so viele handliche und handhabbare Darstellungen zu verdanken haben. Andererseits könnte man bei den (meist, aber nicht konsequent in englischer Übersetzung zitierten) Quellen und vor allem bei der Literatur auf etliche - indes bei solchem "Riesenthema" unvermeidliche - Lücken hinweisen (warum fehlt etwa der immerhin schon 2010 erschienene einschlägige zweite Band der "Deutsch-Französische(n) Geschichte" von Jean-Marie Moeglin?).

Doch nur mit seinerseits detailversessenem Beckmessern würde man der Leistung des an der Universität Durham als Lecturer tätigen Autors fürwahr nicht gerecht, der sich bereits seit seiner 1993 vorgelegten Doktorarbeit [1] wiederholt mit der Thematik, auch vergleichend im westeuropäischen Rahmen, auseinandergesetzt hat. Denn Fleiß und Gelehrsamkeit befähigen ihn am Ende zu wohlfundierten, belastbaren und klaren Grundaussagen: Das deutsche Spätmittelalter war keineswegs eine nur von Niedergang und Auflösung bestimmte Epoche, es hat Eigenprofil und Eigenwert (was allerdings bereits seit längerem einige wenige, dann immer mehr vorwiegend deutsche Historiker von Heimpel über Boockmann und Moraw bis zu Schubert und Isenmann herausarbeiteten), und es war darüber hinaus, so die wichtigste Erkenntnis, von erheblicher Bedeutung für die Genese wie für das Bewusstwerden der Existenz einer deutschen Nation und damit - zumindest bei einer Elite - auch für die Reflexion hierüber, selbst wenn sich dieser Prozess angesichts vielfältiger Fragmentierungen keineswegs so eindeutig abzeichnet wie in den westeuropäischen Monarchien mit ihren nationsschaffenden zentralstaatlichen Strukturen. Hier griffen andere, höchst unterschiedliche und teilweise eben weniger deutliche Faktoren, die erst einmal aufgespürt und in der Zusammenschau gesehen werden wollen; sie reichen etwa von Spuren in wohlgemerkt städtischer und regionaler Historiographie oder in Liedern und Gedichten über Monumente und Bauten wie Pfalzen oder symbolträchtige Bildnisse, Medaillons, Wappen und Siegel bis hin zu sich verdichtenden Kommunikationsnetzen von Kirchen oder auch von führenden adeligen wie bürgerlichen Familien zum Königshof. Am schwersten aber wog, so Scales, der schichten- und regionenüberspannende, mithin auf allen Ebenen greifbare Stolz auf die universale Tradition des römisch-christlichen Imperiums und damit auf die "Translatio imperii in Theutonicos" (Heinrich von Herford, vgl. 279). Eben das Bewusstsein der Erben, in einzigartiger supranationaler Kontinuität zu stehen, schuf nationale Identität, und sie entwickelte sich gerade nach dem Zusammenbruch der letztmals jenen universalen Anspruch zumindest noch partiell in Italien und Burgund einlösenden Stauferherrschaft - ja, die Fiktion kreierte eigentlich erst das Heilige Römische Reich mit einer deutschen Nation als "Heimatbasis" (" 'Home' meant Germany", 194; "The imperial monarchy, for all its universalism, was rooted in German soil", 268). Wen die Berufung zu imperialer Mission erfüllte, war umso überzeugter von seiner eigenen Identität. Nur wurde dies scheinbare Paradoxon bereits von früherer Forschung durchaus erkannt und vielfach belegt - so etwa am Beispiel der germanozentrischen Reichsidee eines Nikolaus von Kues -, wie auch die unheilvollen Übersteigerungen intensiv untersucht wurden, die man aus dem Selbstverständnis, "meyster uber alle andere nacion" zu sein [2], im 19. und vor allem 20. Jahrhundert ziehen zu können vermeinte, wenn die NS-Ideologie unter Rekurs auf das mittelalterliche Reich den Deutschen die Rolle eines Führers und Ordners in Europa zusprach. Wohl vornehmlich mit Blick auf hier weniger kundige angelsächsische Leser widmet sich Scales dem gleich in einem einleitenden Kapitel und kommt auch später noch mehrfach darauf zurück. Er bietet also bei weitem nicht nur Neues, indes wurde die Thematik noch nie in einer derartigen Breite entfaltet, die sich hier auch nicht annähernd adäquat wiedergeben und würdigen lässt.

Man könnte das Buch aber auch als unausgesprochenen Appell an deutsche Leser verstehen, sich nicht allzu sehr auf dem vielzitierten Sonderweg zu wähnen oder als Teil einer ebenso vielzitierten verspäteten Nation zu fühlen, denn die skizzierte Entwicklung fügt sich trotz aller Sonderheiten doch generell in den europäischen Kontext spätmittelalterlicher Nationalisierung, und besagtes Eigenprofil sollte jenseits der fatalen Irrwege durchaus mit zum Haushalt deutschen Identitätsbewusstseins gehören. Hier spricht der unaufgeregt-kontinuitätsbewusste Engländer, dem im Mittelalter-Teil der Ausstellung "Heiliges Römisches Reich deutscher Nation 962-1806" in Magdeburg 2006 wie auch im sie begleitenden Aufsatzband auffiel, dass viele Hinweise zur europäischen, aber keine Hinweise zur spezifisch deutschen Dimension des Themas geboten wurden.

Und doch, dieses im Wortsinn höchst bedenkenswerte Werk mutet ungeachtet seiner Überfülle (noch?) unvollständig an. Sein Einsetzen mit dem Zusammenbruch staufischer Herrschaft leuchtet durchaus ein, indes bleibt zu fragen, warum - ohne nähere Begründung - am Ende die Eröffnung des Konstanzer Konzils 1414 steht (vgl. 4). Ich frage mich, ob der Verfasser vielleicht schon an einer Fortsetzung arbeitet, zumal das 15. Jahrhundert von den allgemeinen Konzilien über Bedrohungen von außen (Türken, Burgund) bis zu den deutschen Humanisten, aber auch angesichts zunehmender Romferne am Vorabend der Reformation vielleicht noch relevanter für die Thematik als das 13./14. Jahrhundert ist. Was speziell die Generalkonzilien von Konstanz (1414-1418) und Basel (1431-1449) anlangt, so stellen sie nach meiner Einschätzung keinen Endpunkt dar, sondern stehen im Gegenteil mitten in einem sich durch sie intensivierenden Prozess, vollzieht sich hier doch eine entscheidende Entwicklung von Konzils- hin zu Partikularnationen, hinter denen schemenhaft bereits neuzeitliche Nationen zu erkennen sind. Speziell vom "Werden der deutschen Nation" in solchem Kontext habe ich kürzlich gehandelt [3] und will darauf auch im Rahmen einer Monographie "Kirche und europäische Mächte im konziliaren Zeitalter" noch eingehen. Darf man von einem anregenden Kopf wie Len Scales hierfür manche Anregung erhoffen, vielleicht sogar in direktem Kontakt an jenem Ort, der Autor und Rezensent verbindet: der Bibliothek des Historischen Seminars der Universität zu Köln, nach Scales "a familiar and congenial workplace" (XIV)? Soweit der Blick von außen. Generell erfreulich ist, dass der seit jeher recht intensive angelsächsische Blick auf deutsche Geschichte sich neuerdings verstärkt auch auf das Alte Reich richtet: Den Werken etwa von Brady und Whaley [4] darf nunmehr Scales' Buch zum deutschen Spätmittelalter an die Seite gestellt werden.


Anmerkungen:

[1] Alexander of Roes. Empire and Community in Later 13th c. Germany [unpublished PhD Thesis], University of Manchester 1993.

[2] Vgl. Heribert Müller: Das Basler Konzil (1431-1449) und die europäischen Mächte. Universaler Anspruch und nationale Wirklichkeiten, in: HZ 293 (2011) 593-629, hier 626 (mit Beleg).

[3] Wie Anm. 2.

[4] Thomas A. Brady: German Histories in the Age of Reformations, 1400-1650, Cambridge u. a. 2009; Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire, 2 vol., Oxford 2012.

Heribert Müller