Maria Magdalena Verburg: Ostdeutsche Dritte-Welt-Gruppen vor und nach 1989/90, Göttingen: V&R unipress 2012, 220 S., ISBN 978-3-89971-936-9, EUR 19,90
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Die Zeit der Runden Tische in den Umbruchjahren 1989/90 war die große Stunde der ostdeutschen Dritte-Welt-Gruppen: Während sie sowohl in den zwei Jahrzehnten vor der friedlichen Revolution, als auch in den Jahren danach eine eher randständige Existenz führten, gaben sie in der Umbruchzeit mit Experten und Meinungsführern kurzfristig den Ton in der ostdeutschen Entwicklungspolitik an.
Maria Magdalena Verburg hat ihre Dissertation diesen, in der wissenschaftlichen Literatur bislang noch weitgehend vernachlässigten, entwicklungspolitischen Zusammenschlüssen gewidmet. Die Arbeit untersucht die Konzepte der Gruppen, deren Entwicklung und die Schwerpunkte ihrer praktischen Arbeit. Die Studie besteht aus drei Kapiteln und ist chronologisch gegliedert.
Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage nach dem Verhältnis der Organisationen zu ihrem jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Umfeld. Verburg möchte wissen, welche Möglichkeiten zur eigenständigen Arbeit in der SED-Diktatur bestanden und wie sich die Akteure auf die neuen Rahmenbedingungen im wiedervereinten Deutschland einstellten. Sie verortet die ersten Dritte-Welt-Initiativen der DDR in ihren kirchlichen und studentischen Milieus als Folgeorganisationen der Aktion Sühnezeichen und der Aktionsgemeinschaft für die Hungernden. Nur knapp charakterisiert die Autorin 16 von insgesamt wohl um die 40 Initiativen, die sie als die aktivsten Gruppen identifiziert. Hierbei stellt sie 22 Personen vor, die als leitende Mitglieder dieser Gruppen wirkten.
Es wird deutlich, dass die Dritte-Welt-Gruppen, anders als andere Zusammenschlüsse, die in der friedlichen Revolution auftraten, keineswegs eine Änderung des politischen Systems in der DDR im Sinn hatten. Vielmehr verfolgten die 22 von Verburg identifizierten Wortführer ihre vor der Wiedervereinigung festgelegten entwicklungspolitischen Ziele ohne einen grundsätzlich veränderten konzeptionellen Zugang zur Thematik auch nach 1989 weiter. Während der friedlichen Revolution konnten die Akteure ein Vakuum füllen, das sich angesichts des Zusammenbruchs der staatlichen Solidaritätspolitik im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit bildete. Fachleute der Dritte-Welt-Gruppen wirkten 1989/90 an der Organisation der entwicklungspolitischen Runden Tische federführend mit, brachten kirchliche, staatliche und gesellschaftliche Organisationen in einen Dialog, formulierten offene Briefe und besetzten leitende Funktionen im 1990 neugegründeten Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit der DDR. Hierbei konnten sie Netzwerke nutzen, die sie in der DDR aufgebaut hatten.
Die Rolle der Initiativen in der DDR erscheint in geringem Maße ambivalent:
Einerseits wurden die Gruppen durch das Ministerium für Staatssicherheit zu den politisch alternativen Gruppen gezählt und beobachtet. Die Initiativen konnten nur als lose Zusammenschlüsse bestehen, sich nicht institutionalisieren oder gar professionalisieren. Ihr entwicklungspolitisches Engagement war durch die begrenzten Artikulationsmöglichkeiten in der SED-Diktatur und die Rahmenbedingungen der staatlichen Solidaritätspolitik der DDR stark eingeschränkt. Andererseits waren sie mit ihrem dependenztheoretischen Ansatz auf der Linie des offiziellen Parteikurses und adaptierten den offiziellen Sprachgebrauch der SED. Die Kritik am Verhalten der westlichen Industrienationen in der Dritten Welt gehörte zu den programmatischen Allgemeinplätzen der Initiativen; sie wurde nicht durch einen Rekurs auf die mitunter ganz ähnliche Außenwirtschaftspolitik der sozialistischen Staaten ergänzt. Zur Programmatik der meisten Organisationen gehörte zudem die so genannte Bewusstseinsbildung in der DDR, womit sie die propagandistisch geprägte, staatliche Solidaritätspolitik unterstützten. Die Gruppen kamen mit der SED-Diktatur nicht in Konfrontation.
Die alte Systemnähe der Initiativen machte sich nach der Wiedervereinigung in mehrfacher Hinsicht bemerkbar. Zwar hatten die Gruppen nun neue Möglichkeiten des Austauschs mit potentiellen Partnerorganisationen in Westdeutschland und in anderen Ländern, konnten sich frei artikulieren und vor allem eigenständig Projekte im Ausland beginnen. Zu einem großen entwicklungspolitischen Aufbruch kam es in den neuen Bundesländern aber nicht. Trotz einiger Neugründungen blieb die Gesamtzahl der Initiativen weit hinter der Zahl der Gruppen in den alten Bundesländern zurück, was Verburg plausibel als Hinweis auf ein fortbestehendes bzw. nur langsam überwundenes Defizit an Zivilgesellschaft in den neuen Ländern wertet. Auch nutzten die Gruppen kaum die Möglichkeiten einer Institutionalisierung und Professionalisierung. Die neuen Freiheiten stellten die Akteure stellenweise offenbar vor Schwierigkeiten. Häufig wurde etwa gewarnt, dass die neue Reisefreiheit und die zu starke Konzentration auf das Ausland zu einer Vernachlässigung der Bewusstseinsbildung im Inland führen könne. Mit ihrer postmaterialistischen und modernisierungskritischen Haltung sei es den Gruppen kaum gelungen, eine breite Bevölkerung für sich zu gewinnen. Kontinuität habe bei der Forderung nach einer Reformierung der als ungerecht empfundenen Weltwirtschaftsstrukturen bestanden. Als Ursache für die Armut in den Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens wurde weiterhin die Gewinnmaximierung im kapitalistischen Wirtschaftssystem identifiziert und sozialistische Gesellschaftsentwürfe erschienen nach wie vor als Alternative. Die Zusammenarbeit mit westdeutschen Gruppen scheiterte oft an Fragen der Kommunikation und des Umgangsstils; viele ostdeutsche Akteure fühlten sich wohl auch zu häufig belehrt und bevormundet. Insgesamt erscheinen der Autorin die Brüche zwischen Ost und West tiefer als zwischen ehemaligen Vertretern der staatsoffiziellen Solidaritätspolitik und den im Umfeld der evangelischen Kirche entstandenen Dritte-Welt-Gruppen.
Mit ihrem spezifischen Fokus auf den Bereich der Entwicklungspolitik liefert die Arbeit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der politischen Willensbildung 1989/90. Sie enthält zahlreiche grundlegende Informationen zum Wesen der Dritte-Welt-Gruppen in Ostdeutschland. Die Arbeit weckt Neugier auf eine noch zu fertigende Analyse der Gruppenstrukturen, der gegenseitigen Abhängigkeiten und der Rolle von politischen Initiativen in der DDR insgesamt. Insbesondere der Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit und die Bedeutung des Repressionsapparates der DDR für die offenbar bis weit in die 1990er Jahre nachwirkende Artikulation konzeptioneller Grundsätze wären noch zu untersuchen.
Jan Peter Behrendt