Andreas Sohn (Hg.): Wege der Erinnerung im und an das Mittelalter. Festschrift für Joachim Wollasch zum 80. Geburtstag (= Aufbrüche. Interkulturelle Perspektiven auf Geschichte, Politik und Religion), Bochum: Verlag Dr. Dieter Winkler 2011, XVI + 236 S., ISBN 978-3-89911-138-5, EUR 39,00
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In seiner einleitenden Würdigung (XI-XVI) verbindet Andreas Sohn das Gedenken an die vor 1100 Jahren (910) gegründete Abtei Cluny mit dem Anlass dieser Festschrift. Der 80. Geburtstag des wie kein zweiter lebender Historiker mit Cluny verbundenen Joachim Wollasch am 1. Februar 2011 brachte einen internationalen Kreis von Historikern, Kunsthistorikern, Byzantinisten und Theologen zusammen, die sich freilich nicht alle dem verbindenden Gesichtspunkt von Memoria und Memorialkultur verpflichtet fühlten.
Der Band ist in vier Sektionen gegliedert, deren erste ("Zu Erschließung, Edition und Erforschung ausgewählter Memorialüberlieferungen: Wissenschaftler - Institutionen - Projekte") aus einem wissenschafts- und methodengeschichtlich aufschlussreichen Beitrag von Jean-Loup Lemaître besteht ("De Léopold Delisle à Joachim Wollasch. 150 ans de travaux et recherches sur les nécrologes et les obituaires", 3-17), der in luzider Weise den langen Weg von genealogischen Interessen (André Duchesne) über die Materialsuche für die Gallia christiana zu prosopografischen, sozial-, wirtschafts-, kunst- und ideengeschichtlichen Fragestellungen nachzeichnet und auf die Konsequenzen dieser verschiedenen Ansätze für die Editionsprinzipien hinweist.
Die zweite Sektion ("Wege der Erinnerung im Mittelalter: Stifter und Träger, Formen und Inhalte, Gedächtnispotentiale und Wirkungen") enthält neun Beiträge zu sehr speziellen Themen und macht einen entsprechend disparaten Eindruck. Reinhard Meßner behandelt "Die mittelalterliche Palmprozession als Weg des Gedenkens" (21-44) unter liturgiegeschichtlichem Aspekt und verfolgt die in verschiedenen Ordines festgehaltenen Formen, mit denen der im Johannesevangelium geschilderte Einzug Jesu in Jerusalem sowohl erinnert als auch anagogisch auf den Einzug des Auferstandenen in den Himmel gedeutet und zur Anschauung gebracht wurde.
Volkhard Huth ("Eriugena am Oberrhein? Zum monastischen und wissensgeschichtlichen Beziehungshorizont des Klosters Schuttern im Frühmittelalter", 45-59) greift auf einen "vor Jahren im kleineren Kreise", aber immerhin in Gegenwart des Jubilars, gehaltenen Vortrag zurück, anhand dessen er die Rolle des Ortenauklosters in der karolingischen Bildungswelt in Hinblick auf den Kulturtransfer zwischen west- und ostfränkischem Reich bestimmen möchte.
Einen Bezug zum Thema der Festschrift vermisst man auch im Beitrag von Eduard Hlawitschka ("Lassen sich die mütterlichen Ahnen Papst Leos IX. [1048/49-1054] ermitteln?", 61-82), der den Vater der Mutter Leos, Graf Ludwig von Dagsburg, für einen Neffen König Rudolfs II. von Hochburgund hält.
Jarosław Wenta ("Wer war der Verfasser der Chronik des sogenannten Gallus Anonymus", 83-94) kommt anhand einer Untersuchung der rhythmischen Prosa auf der vergleichenden Basis von Datenbanken zu dem Schluss, dass der Autor in Nordfrankreich gearbeitet habe, sprachlich an spätcluniazensischen Texten und der Liturgie geschult. Als Konzipient von Briefen und Urkunden habe er süddeutsche Formen der ars dictandi verwendet; deshalb und auf Grund der Indizien für eine antisalische Haltung des Chronisten dürfe man annehmen, dass er vor seiner Übersiedlung nach Polen in der Kanzlei Hermanns von Salm gearbeitet habe. Von diesem Nachfolger Rudolfs von Rheinfelden gibt es leider nur zwei Urkunden.
Eine bei Ordericus Vitalis überlieferte Rede des Herzogs von Aquitanien und der darin enthaltene Vergleich des Grafen Raymund von Toulouse mit Vergil veranlasst George Beech zu der am Ende vorsichtig positiv beantworteten Frage "Did William IX (the troubadour) know Virgil?" (95-102); sollte es sich hingegen um eine vom Chronisten erfundene Ansprache gehandelt haben, könne die dem Herzog unterstellte Vergilkenntnis als Hinweis auf dessen eigene Qualität als Dichter gesehen werden.
Andreas Sohn ("Die Gedenkstiftung Saint-Urbain in Troyes (Champagne). Zur Memoria des Papstes Urban IV. (1261-1264) in seiner Heimatstadt", 103-126) führt mit einer sorgfältigen Untersuchung der Bemühungen des Papstes um die eigene Memoria zum Thema der Festschrift zurück und weist auf die bemerkenswerte Tatsache hin, dass die Gründung einer beachtlichen Kanonikerstiftskirche an der Stelle seines Geburtshauses auch zur Kommemoration seiner dem Handwerkermilieu von Troyes angehörenden Eltern diente. Neben der Schilderung einer atemberaubenden Karriere erschließt der Beitrag Neuland durch detailreiche Rekonstruktion von Geschichte und Technik dieser Stiftung anhand der Urkunden und zweier Viten des Papstes, der leider nur fragmentarisch erhaltenen Memorialüberlieferung und nicht zuletzt einer kunsthistorischen Analyse des Kirchenbaus. Bis in die jüngere Geschichte (Translation der Gebeine Urbans IV. von Perugia nach Troyes 1901, Beisetzung im Chor der Stiftskirche 1935) führt diese methodisch und durch ihre breit angelegte Fragestellung ausgezeichnete Untersuchung.
Von der Mitte des 12. Jahrhunderts an wird das Totengedächtnis reduziert und die Nekrologien wandeln sich zu Anniversarverzeichnissen für Stifter, mit der Konsequenz eines Verlustes an Dokumentation überregionalen Gemeinschaftsbewusstseins. Vor dem Hintergrund dieser Wandlung erinnert Dieter Geuenich ("Totengedenken im Spätmittelalter", 127-133) daran, dass dies sicher für das 13. und 14. Jahrhundert gilt, nicht jedoch für die spätere Zeit mit den neugebildeten und großräumig organisierten Kongregationen (Bursfelde, Windesheim).
Angesichts der integrierenden Kraft des Schlachtengedenkens, an vielen Einzelbeispielen schon besprochen, aber noch nicht entfernt so systematisch untersucht wie die monastische Memorialpraxis, behandelt Hermann Kamp "Erinnerungspolitik im Zeichen der Krone. Der französisch-burgundische Sieg von Roosebeke und die Einäscherung Kortrijks 1382" (135-146) unter dem Gesichtspunkt des Konflikts zwischen verschiedenen Objekten und Traditionen des Gedenkens. Die Sieger von 1382 zündeten eine Stadt an, in der die französische Niederlage von 1302 jahrtäglich gefeiert wurde, und versuchten damit das gesamte identitätsstiftende Gedächtnis auszulöschen.
Auf dem Feld der städtischen Memoria bewegt sich auch Rolf Sprandel mit dem Hinweis auf "Das Ratsprotokoll und andere Mittel der Erinnerung im Würzburg des 15. und 16. Jahrhunderts" (147-154), in denen sich die Entstehung einer bürgerlichen Verfassung in Auseinandersetzung mit dem Stadtherrn spiegelt.
Das Thema der dritten Sektion, "Erinnerungsorte in der Neuzeit", wird unter drei Aspekten abgehandelt. Rainer Stichel ("Ein Beitrag zum Verständnis des Deckengemäldes von Andrea Sacchi im römischen Palazzo Barberini", 157-174) befasst sich mit einer Darstellung der göttlichen Weisheit, die in den Jahren 1629/30 entstanden ist und üblicherweise als Manifestation der astrologischen Vorstellungen Papst Urbans VIII. gilt, hier aber im Hinblick auf ihre liturgische Bedeutung gewürdigt wird, weil der am 6. August 1623, dem ersten Sonntag in diesem Monat und damit am Tag des Beginns der Lektionen aus den Weisheitsbüchern der Bibel, gewählte Papst diese Duplizität als ein Werk der göttlichen Vorsehung gesehen haben könnte. Freilich ist unter Kennern umstritten, wer für das Bildprogramm verantwortlich war.
Solche Programmatik ist auch in anderer Hinsicht von Interesse, weil sie zeigen kann, was oder wer unter spezifischen Blickwinkeln "denkwürdig" sein konnte. Exemplarisch berichtet Heinz Duchhardt ("Der Freiherr vom Stein, die Walhalla und die mittelalterlichen Geschichtsschreiber", 175-180) kurz und quellennah, in welcher Weise der auf ein deutsches Hochmittelalter fixierte Freiherr vom Stein den bayerischen Kronprinzen Ludwig (I.) bei der Auswahl mittelalterlicher Geschichtsschreiber beriet, deren Büsten in einem projektierten Zentralort für die nationale Erinnerung aufzustellen wären. Außer Otto von Freising, Thietmar von Merseburg und Hrotsvith von Gandersheim schlug er wegen ihrer politischen Bedeutung noch Hermann von Salza und Wibald von Stablo und Corvey vor, während der Kronprinz den Kreis über die von Stein favorisierte Epoche des 10.-13. Jahrhunderts hinaus erweiterte, Thietmar und Wibald überging, aber Paulus Diaconus, Einhard, Lampert von Hersfeld und sogar Beda Venerabilis aufnahm, dessen Nominierung zu erklären, eine reizvolle Aufgabe gewesen wäre.
Mit der Frage, wie bedeutende französische Schriftsteller die Erinnerung an das Mittelalter als Bestandteil der (west)europäischen Zivilisation in ihren Werken verarbeitet haben ("La mémoire de l'art et de la liturgie du Moyen Age occidental chez les écrivains français des XIXe et XXe siècles", 181-192), berührt Eric Palazzo ein hochkomplexes, noch weitgehend offenes Forschungsfeld, das von vornherein interdisziplinäre Ansprüche stellt. Dem modernen Europäer sei das Mittelalter nur scheinbar vertraut, es sei vielmehr ein Anderes, Fremdes, das schwer wahrzunehmen ist. Historiker oder Kunsthistoriker erlägen vielfach der Illusion, dass aus professioneller Kennerschaft Vertrautheit mit der Lebenswelt des Mittelalters folge, während es doch im Kern, ebenso wie in der Literatur, um die Konstruktion einer christlichen Identität gehe. Heuristisch lebt der Beitrag von einer 1923 an der Universität Zagreb angenommenen und 1996 ebendort publizierten Dissertation, nennt unter vielen anderen die Namen Stendhal, Proust, Huysmans, und behauptet, Proust habe sich auf den Kunsthistoriker Emile Mâle bezogen, weil "tous deux ont exprimé [...] leur nostalgie de la France médiévale et de son art au service de la liturgie catholique" (189). Das angeführte (185) Zitat aus dem ersten Band von Prousts Recherche ist nicht geeignet, diese These zu belegen.
In der abschließenden vierten Sektion ("Das Mittelalter in Ausstellungen des 20. und 21. Jahrhunderts") teilen Hans-Ulrich Thamer ("Das Mittelalter in historischen Ausstellungen der Bundesrepublik Deutschland", 195-206) und Christoph Stiegemann ("'Ein Erlebnis von Gleichzeitigkeit'. Die großen kunst- und kulturhistorischen Mittelalter-Ausstellungen in Paderborn seit 1999 zwischen Wissenschaft und Inszenierung", 207-224) ihre Beobachtungen zu den so außerordentlich erfolgreichen Großausstellungen mit, die nicht mehr ausschließlich kunsthistorisch ausgerichtet sind, von Politikern als identitätsstiftend gefördert, von der Tourismusbranche geschätzt und vom Publikum als ästhetisierte fremde Lebenswelt rezipiert werden. Andererseits bieten sie "die einzigartige Gelegenheit, hochrangige Werke zusammenzuführen und im Vergleich zu zeigen" (Stiegemann 215). Mit der Erinnerung an das Mittelalter verbänden sich "kulturelle Wertmuster wie Tradition, Originalität und Dauerhaftigkeit, die sich ebenso an glanzvollen Objekten von Kronen bis zu Aquamanilen ablesen lassen" (Thamer 204) und dieser Epoche ihre bemerkenswerte Popularität zumindest mittelfristig sichern.
Joachim Ehlers