Roland Burke: Decolonization and the Evolution of International Human Rights (= Pennsylvania Studies in Human Rights), Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2010, V + 234 S., ISBN 978-0-8122-4219-5, USD 55,00
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Die Auflösung der europäischen Kolonialreiche und die Etablierung universaler Menschenrechte nach 1945 sind ohne Zweifel zwei prägende historische Entwicklungslinien in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Umso erstaunlicher ist es, dass beide Themen lange Zeit - abgesehen von wenigen Ausnahmen [1] - nur getrennt voneinander betrachtet und analysiert wurden. Dem australischen Historiker Roland Burke, der als Lecturer an der La Trobe University in Melbourne lehrt, gelingt es in seinem Buch 'Decolonization and the Evolution of International Human Rights', beide historische Entwicklungsstränge überzeugend miteinander zu verbinden und ihre signifikanten Wechselbeziehungen darzustellen. In seiner Studie vertritt Burke die Ansicht, dass der Beitrag arabischer, asiatischer und afrikanischer Staaten bei der Entwicklung des UN-Menschenrechtsregimes von fundamentaler Bedeutung war. Seine zentrale These lautet daher: "The impact of these states in the development of the rights program was at least as important as that of the western democracies, the Soviet bloc, and the ever-growing constellation of NGOs." (2). Der Autor vollzieht somit einen entscheidenden Perspektivwechsel, der abseits der traditionell westlich-europäischen Einflüsse explizit die Bedeutung nichtwestlicher Staaten ins Blickfeld nimmt und damit die Geschichte der Menschenrechte um eine bisher wenig beachtete Dimension bereichert. Burke betont die zentrale Rolle der Dekolonisation als "a political force in the evolution of the UN human rights agenda" (4) ohne insgesamt das ambivalente, multidimensionale Verhältnis des Antikolonialismus in Bezug auf individuelle Rechte außer Acht zu lassen.
Das Buch gliedert sich inhaltlich in fünf Kapitel, die insgesamt den Zeitraum von den 1950er bis in die 1970er Jahre abdecken. Als Einstieg wählt Burke die afro-asiatische Konferenz von Bandung im April 1955 und stellt dabei die Frage, welche Rolle universale Menschenrechte in diesem Gründungsmoment der Blockfreien Bewegung spielten. Anschaulich schildert der Autor die verschiedenen Positionen und zum Teil sehr kontroversen Debatten zwischen den antikolonialen Konferenzteilnehmern in Bezug auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, wobei er zu folgendem Ergebnis kommt: "Anticolonialism was in part concieved of as a struggle for human rights, the two concepts proceeding together in the campaign for freedom and independence." (14). Demnach markierte Bandung den Höhepunkt des Eintretens der Staaten der Dritten Welt für die Universalität von Menschenrechten. Ohne die zentrale Bedeutung der Bandung-Konferenz in Frage zu stellen, gilt es an dieser Stelle anzumerken, dass der Leser leider nichts über die Rolle der antikolonialen Bewegung in der formativen Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit von 1945 bis 1955 erfährt. Aber gerade in diesem Zeitabschnitt, ja vielmehr noch bereits während des Zweiten Weltkriegs, wurden fundamentale Forderungen des Antikolonialismus - quasi als Vorgeschichte zu Bandung - formuliert und artikuliert. Ebenso wenig wird hier die Bedeutung und der prägende Einfluss der südamerikanischen Staaten auf das UN-Menschenrechtsregime thematisiert.
In Kapitel zwei und drei wendet sich Burke dann konkreten Evolutionsschritten innerhalb der Vereinten Nationen zu. Ausführlich widmet er sich zunächst dem Spannungsverhältnis zwischen individuellen Grundrechten und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, wobei er gekonnt die kontroversen Debatten von den 1950er Jahren bis zur entscheidenden UN-Resolution 1514 über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker im Jahr 1960 nachzeichnet. Ähnliches gelingt ihm in Bezug auf das zähe Ringen um die Verankerung eines universalen Petitionsrechts, das die afrikanischen und asiatischen Staaten schließlich Mitte der 1960er Jahren erfolgreichen durchsetzten. In diesem Zusammenhang verweist der Autor auf die Ironie der Geschichte, dass nicht so sehr westliche Demokratien, sondern letztlich postkoloniale Diktaturen in Afrika und Asien entscheidend zu einem Menschenrechtssystem beitrugen "that contained unprecedented potential for the future investigation of their own regimes." (91). So gelungen die Rekonstruktion dieser Diskurse im Rahmen der Vereinten Nationen ist, vermisst man manchmal den direkten Bezug auf konkrete Ereignisse der Dekolonisation. Die Debatten um das Selbstbestimmungs- und das Petitionsrecht waren auch geprägt von den bewaffneten Auseinandersetzungen der Dekolonisierungskriege wie zum Beispiel dem Algerienkrieg, der von 1955 bis 1961 permanent auf der Agenda der Vereinten Nationen präsent war und entsprechend das diplomatische Klima in den verschiedenen UN-Gremien bestimmte. Eine stärkere Einbeziehung dieser konkreten Entwicklungen wäre daher an einigen Stellen wünschenswert.
Die beiden letzten Kapitel richten ihren Fokus dann auf das Verhältnis der neuen postkolonialen Staaten auf die Weiterentwicklung des internationalen Menschenrechtsregimes. Anhand der ersten Internationalen Konferenz der Vereinten Nationen über Menschenrechte im Jahr 1968 in Teheran beleuchtet Burke den fundamentalen Wandel der Länder der Dritten Welt in Bezug auf universale Menschenrechte oder wie es der Autor selbst formuliert: "The spirit of Tehran was radically different from the legendary 'spirit of Bandung'" (109). Während man im antikolonialen Befreiungskampf Menschenrechte nachdrücklich befürwortet hatte, nahmen viele postkoloniale Staaten nun, nachdem sie selbst zu autoritäre Regimen geworden waren, eine deutlich reserviertere Haltung zu individuellen und demokratischen Grundrechten ein. Entsprechend konstatiert Burke abschließend für die Staaten der Dritten Welt ab den 1970er Jahren einen "decline of human rights", der maßgeblich von einem "rise of cultural relativism" begleitet wurde. Treffend fasst er diese Entwicklung mit den Worten zusammen: "Cultural relativism as a philosophical discourse has its origins in opposition to European imperialism, but historical it has served authoritarian masters of all stripes." (143).
Trotz der erwähnten kleinen Einschränkungen ist es Burke mit seinem Buch gelungen, die beiden Themenkomplexe von Dekolonisation und Menschenrechten anschaulich miteinander zu verbinden. Während einige Historiker die Bedeutung der Dekolonisation für die Entwicklung universaler Grundrechte gering einschätzen [2], stellt der Autor die signifikante Wechselbeziehung beider Entwicklungsstränge überzeugend dar. Sowohl zur Forschung der Dekolonisation als auch zur Geschichte der Menschenrechte hat Burke somit einen substantiellen Beitrag geleistet, der sicherlich zu weiteren Debatten anregen wird.
Anmerkungen:
[1] Brian A. W. Simpson: Human Rights and the End of Empire: Britain and the Genesis of the European Convention, Oxford 2004; Fabian Klose: Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt. Die Dekolonisierungskriege in Kenia und Algerien 1945-1962, München 2009 (Human Rights in the Shadow of Colonial Violence. The Wars of Independence in Kenya and Algeria, Philadelphia 2013).
[2] Vgl. hierzu Kapitel 3 "Why Anticolonialism Wasn't a Human Rights Movement", in: Samuel Moyn: The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge (M.A.) 2010, 84-119.
Fabian Klose