Burcu Dogramaci / Karin Wimmer (Hgg.): Netzwerke des Exils. Künstlerische Verflechtungen, Austausch und Patronage nach 1933, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2011, 472 S., 194 Abb., ISBN 978-3-7861-2658-4, EUR 39,00
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Dogramaci und Wimmer verbinden die in der kunstwissenschaftlichen Forschung sehr lebendige Exilforschung mit einer zunehmend an Aktualität gewinnenden Netzwerkforschung, die sich in der letzten Zeit in vielerlei Hinsicht zu einem Trendthema entwickelt hat. Grundlage der Publikation sind die Vorträge einer gleichnamigen Tagung, die vom 12. bis 14. November 2010 am Center for Advanced Studies der LMU München stattgefunden hat und das künstlerische Exil vorrangig nach interdisziplinären Verknüpfungen, Netzwerkbildungen, Mäzenatentum und Patronage befragte.
Der Sammelband widmet sich deshalb aus unterschiedlichen Perspektiven der Frage der Relevanz von Netzwerken für emigrierte Künstlerinnen und Künstler. Anhand eines Vergleichs der Exilerfahrungen möchten die Herausgeberinnen übergreifende Erkenntnisse zu den Grenzen und Perspektiven künstlerischen Schaffens unter den schwierigen Bedingungen der Emigration erhalten. Dabei werden so unterschiedliche Exilorte wie Palästina, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, die USA, Afrika, China und die Türkei in den Blick genommen. Die Publikation ist in fünf thematische Kapitel strukturiert. Nach einer Einleitung von Burcu Dogramaci, die den Forschungsgegenstand skizziert, untersuchen die Beiträge des ersten Kapitels "Alte und neue Netzwerke - Kontinuität, Transformation und Zäsur", inwieweit die vor der Emigration ausgebildeten Kontakte auch nach 1933 aufrechterhalten blieben oder abgebrochen werden mussten. Ita Heinze-Greenberg befasst sich mit dem Jerusalemer Emigrantenkreis um Else Lasker-Schüler, Salman Schocken und Erich Mendelssohn, Patrick Rössler untersucht strategische Netzwerke als Starthilfe und Kalkül im Exil am Beispiel von Herbert Bayers Neubeginn in den USA im Jahr 1938, Sarah MacDougall widmet sich dem Émigré Network in Großbritannien von 1933 bis 1945, Regina Göckede und Gabriele Grawe erläutern Beispiele für das "Neue Bauen" in der Fremde und Bernd Nicolai analysiert Martin Wagners Netzwerke im Exil in der Türkei und den USA. Das zweite Kapitel "Avantgarde und Transfer" reflektiert, inwieweit progressive künstlerische Konzepte in die neue Exilheimat mitgenommen oder erst dort entwickelt wurden. Daniela Stöppel analysiert die Exilerfahrungen Otto Neuraths und die Entwicklung der Bildstatistik zur Isotype in England, Benjamin Tiven berichtet über die Exilerfahrungen von Ernst May und Erika Mann in Nairobi (1933-53), Burcu Dogramaci befasst sich mit der Entwicklung der "Münchener Illustrierten Presse" zur Picture Post und Jutta Vincent beschreibt die Emigrantennetzwerke in Großbritannien zwischen international und national definierter Kunst. Das dritte Kapitel behandelt die Themen "Patronage und Kooperationen" und versammelt Aufsätze von Ruth Hanisch zum "Wiener Wohnen" im New Yorker Exil, von Eduard Kögel zur Situation von Richard Paulick in Schanghai, von Fran Lloyd zu Ernst Eisenmayer und Kurt Weiler in den 1940er-Jahren in Großbritannien und von Ines Rotermund-Reynard zum geheimen Briefwechsel von Charlotte Weidler und Paul Westheim in der Zeit von 1933-1940. Das vierte Kapitel "Künstlerische Vereinigungen und Orte der Vernetzung" fragt nach der Bedeutung der Zusammenschlüsse, untersucht aber auch die Orte, an denen Emigranten gemeinsam agierten: Museen, Galerien und Ausbildungsinstitutionen, wie beispielsweise die Ben Uri Art Society in London (Rachel Dickson) oder das Mills College im kalifornischen Oakland (Isabel Wünsche). Das fünfte Kapitel "Kuratoren, Galeristen, Kritiker und Sammler" verweist auf die Bedeutung der beruflichen Netzwerke. Karin Wimmer berichtet über den Surrealisten Max Ernst in New York, Andrea Bambi und Felix Billeter über Max Beckmann im Amsterdamer Exil und seinen Netzwerken in den Niederlanden. Aufgrund der Vielzahl der Beiträge kann an dieser Stelle nur eine exemplarische Nennung der einzelnen Themen erfolgen. Die Herausgeberinnen erläutern im Vorwort, dass der künstlerische, organisatorische oder politische Zusammenschluss mit anderen Emigrantinnen und Emigranten sowie mit Auftraggebern oder Förderern eine entscheidende Bedeutung für das Scheitern oder Bestehen im Exil haben konnte. Zugleich erheben sie die These, dass Netzwerke von der bisherigen Exilforschung weitgehend vernachlässigt wurden und in der kunsthistorischen Forschung die Analyse von Verflechtungen und Beziehungen bisher zu wenig Beachtung fand. Mit ihren Recherchen möchten sie neue Erkenntnisse über den Kultur- und Wissenstransfer zur Zeit des Nationalsozialismus liefern und einen Einblick in künstlerische Transmissionsprozesse ermöglichen. Eine weitere Zielsetzung, die im Vorwort benannt wird, ist der Wunsch, ein internationales Wissenschaftsnetzwerk zur Exilforschung zu begründen. Dass die Exilforschung weder neu begründet noch neu erfunden werden muss, verdeutlicht eine lange Tradition der Wissenschaftsgeschichte, die sehr qualifizierte Studien zum Austausch sowie zur Interaktion und Netzwerkbildung aufweist, welche zugleich auch verdeutlichen, dass Netzwerke eine conditio sine qua non erfolgreicher Emigration waren. [1]
Welche neuen Erkenntnisse ermöglicht nun die vorliegende Publikation, deren Fazit ist, dass die Netzwerkbildung länder- und gattungsübergreifend elementar für den beruflichen Erfolg in der Diaspora war? Die beiden Herausgeberinnen haben sich für eine "akteurszentrierte Perspektive" entschieden, um zu untersuchen, "in welchen Konstellationen bildende Künstler untereinander, zu Auftraggebern, Sammlern, Mäzenen und Kritikern, Galeristen wie Kustoden standen" (16). Diesem Ansatz folgen auch die meisten Einzelstudien, in denen die Autorinnen und Autoren die vielfältigen Kontakte, die Künstlerinnen und Künstler auf der Flucht vor den Nationalsozialisten und in der Emigration unterhielten, analysieren und beschreiben. In einem breiten Spektrum werden die Grenzen und Perspektiven künstlerischen Schaffens unter den sehr unterschiedlichen Bedingungen in der Emigration dargestellt, wie beispielsweise an der amerikanischen Ostküste, wo bekanntermaßen eine lebendige Emigrantenszene existierte oder in der kontinuierlich wachsenden Enklave deutschsprachiger Intellektueller in den 1930er- und 1940er-Jahren in Los Angeles. Aus Deutschland geflohene Künstler, Literaten, Filmemacher und Musiker fanden in diesem Milieu ihre Auftraggeber. Oftmals gelang die Einreise in die jeweiligen Exilländer nur auf Empfehlung. Verbindungen unter den Emigranten, Kontakte zu einheimischen Künstlern und Auftraggebern sowie das Engagement in Organisationen und Verbänden konnten den beruflichen Einstieg daher erleichtern.
Da Studien zu transnationalen Solidaritätsnetzwerken, zum Exil, zur Migration, zum Internationalismus und zum Wissenschaftstransfer derzeit in vielen Fachdisziplinen mit unterschiedlichem Gewinn durchgeführt werden, bleibt zu fragen, wo genau der Mehrwert einer netzwerkorientierten Forschung liegt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Netzwerke keine statischen Gebilde sind, sondern dynamische zwischenmenschliche Interaktionen, die sich fachübergreifend und transterritorial etablieren. Exemplarisch für solche transdisziplinären Netzwerke sei an dieser Stelle auf die New School for Social Research in New York, das Institute for Advanced Studies in Princeton, das Blackmountain College in North Carolina und das Roosevelt College in Chicago verwiesen. Dogramaci erinnert in ihrer Einführung deshalb auch an die Vernetzungsfunktion, welche die New School for Social Research als energetisches Zentrum einer "Universität des Exils" wahrnehmen konnte. In der Zeit von 1933 und 1943 unterrichteten hier insgesamt mehr als 90 Lehrkräfte aus Deutschland, Österreich und Frankreich im Bereich der bildenden Kunst, der Musik, dem Kunstgewerbe, der Psychologie sowie der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Dem Lehrkörper gehörten in dieser Zeit so bekannte Persönlichkeiten wie Hannah Arendt, Rudolf Arnheim, Hanns Eisler, Erich Fromm, Erwin Piscator und Claude Lévi-Strauss an. Somit ist die New School for Social Research, die das Potenzial emigrierter Wissenschaftler/innen und Künstler/innen produktiv zu nutzen wusste, ein gutes Beispiel für die Bedeutung des Netzwerkens im Exil. Anhand dieser Institution kann exemplarisch aufgezeigt werden, dass ein Scheitern oder Bestehen in der Fremde mitunter auch davon abhängig war, wie gut die Exilantinnen und Exilanten im Emigrationsland vernetzt waren. Dennoch bleibt abschließend festzustellen, dass "die netzwerkorientierte Exilforschung nur eine instrumentelle Hilfsfunktion haben kann, um die Fragen des kulturellen Transfers, der Integration, Akkulturation und der Wirkung der Emigranten an ihren Zufluchtsorten zu erklären." [2]
Anmerkungen:
[1] An dieser Stelle sei beispielhaft auf die Forschungen zur Kunstgeschichte im Exil von Ulrike Wendland (Biografisches Handbuch deutschsprachiger Kunsthistoriker im Exil, 2 Bände, München 1998) und Karen Michels (Transplantierte Kunstwissenschaft. Deutschsprachige Kunstgeschichte im amerikanischen Exil, Berlin 1999) verwiesen sowie an die Gründung der Gesellschaft für Exilforschung e.V. im April 1984 erinnert, deren Aufgabe es ist, die komplexe Problematik des Exils seit 1933 interdisziplinär und unter geschlechterdifferenzierender Perspektive aufzuarbeiten. Die Forschungsergebnisse werden kontinuierlich im internationalen Jahrbuch sowie im Nachrichtenbrief publiziert.
[2] So Claus-Dieter Crohn in seiner Rezension des vorliegenden Buches, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, hg. im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung von Claus-Dieter Krohn / Lutz Winckler, Bd. 30, 2012, 332f..
Nicola Hille