Tobias Brinkmann: Migration und Transnationalität (= Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, 192 S., ISBN 978-3-506-77164-3, EUR 16,90
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Tobias Brinkmann, Associate Professor für Jüdischen Studien und Geschichte an der Staatlichen Universität von Pennsylvania (USA), ist kein unbekannter auf dem Gebiet der jüdischen Migrationsgeschichte. [1] Nach seiner Dissertation über die jüdische community in Chicago legt er nun mit seiner zweiten Monographie Migration und Transnationalität einen Überblicksband zur transnationalen Geschichte der Jüdinnen und Juden in und aus Deutschland vor. [2] Migration und Transnationalität erscheint in der von Rainer Liedtke und Stefanie Schüler-Springorum herausgegebenen Reihe Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte, in der bisher Kultur und Gedächtnis von Klaus Hödl erschienen ist. [3]
Ausgehend von der These, dass deutsche Jüdinnen und Juden in der intellektuellen Debatte und wirtschaftlichen Vernetzung der weltweiten jüdischen Diaspora einen zentralen Anteil hatten, entwirft Brinkmann eine knapp zwei Jahrhunderte umfassende Erzählung. Chronologisch in sechs Abschnitte gliedert, bleibt Deutschland mit Fokus auf Berlin in seinen veränderten Grenzen er Ausgangspunkt für die Koordinaten Osteuropa, Nordamerika und Israel. Um dem Anspruch der transnationalen Geschichtsschreibung gerecht zu werden, wählt Brinkmann als ProtagonistInnen einerseits die Menschen, Migranten, Flüchtlinge und Deportierte, und andererseits transnational agierende Organisationen und Unternehmen.
Brinkmann beginnt in einem kurzen Einführungskapitel "Emanzipation und Migration" mit den Vorbedingungen der Auswanderungsgeschichte deutscher Jüdinnen und Juden ab 1820. Neben der gesellschaftlichen und gesetzlichen Diskriminierung sowie der immer wieder aufflammenden Gewalt gegen Juden in den deutschen Staaten sieht er die Emigration auch als Folge aus dem sozialen Verteilungskampf im Zeitalter der Industrialisierung (15-17). Den Wandel zum vorbildhaften deutschen Judentum erklärt Brinkmann die Bedeutung der Stadt als Lebens- und wirtschaftlichen Mittelpunkt des deutsch-jüdischen Lebens. Denn erst mit dem Zug an die Universitäten, der Gründung eigener Forschungsinstitute und der "Öffnung des Ghettos" (33) entstand demnach ab Mitte des 19. Jahrhunderts das weltweit als bürgerlich, bildungsstark und emanzipiert wahrgenommene deutsche Judentum.
Im folgenden Kapitel "Deutsche Juden transnational" stellt Brinkmann sowohl die geographische Expansion Preußens nach Posen als auch neue Kommunikations- und Fortbewegungsmitteln als entscheidende Faktoren für die Zentralisierung und gesteigerte Vorbildfunktion des deutsch-jüdischen Milieus dar. Er hebt die Funktion der deutschen MigrantInnen in Nordamerika hervor und bewertet die Reformbewegung als das "vielleicht wichtigste bleibende Erbe deutsch-jüdischen Einwanderer des neunzehnten Jahrhunderts." (60)
In dem Abschnitt "Deutsche und andere Juden" zeichnet Brinkmann die "jüdische Massenmigration" (61) Ende des 19. Jahrhunderts nach. Während im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg der städtisch-jüdische Anteil in Nordamerika und Ostmitteleuropa seinen erstmaligen Höhepunkt erreicht hatte, war das deutsche Kaiserreich weniger Ziel der Wanderungen sondern vor allem "wichtigstes Transitland" (69). Dennoch wurde von vielen der jüdische Zuzug als Bedrohungsszenario öffentlich wirksam inszeniert und führte zu mehreren Ausweisungswellen aus Deutschland. Brinkmann beschreibt weiterhin die neu entstehenden Hilfskomitees und Unternehmen, die sich einerseits aus solidarisch-religiösen Gründen um durchreisende Jüdinnen und Juden kümmerten und andererseits das expandierende Geschäftsfeld der Reise mit prägten.
Dass sich Deutschland dennoch für viele vom Transitland zur neuen Heimat wandelte, lag auch an den neuen restriktiven Einwanderungsgesetzen der eigentlichen Ziele Nordamerika und Großbritannien. In "Wendepunkt und Umbruch" ordnet Brinkmann die Konsequenzen aus dem Ersten Weltkrieg für die jüdische Migration noch einmal verstärkt in den globalgeschichtlichen Kontext ein. Dazu gehört auch, dass die Kriege und bewaffneten Auseinandersetzungen in Polen und der Ukraine mit Pogromen gegen heimische Juden einhergingen. In Deutschland dagegen verschärfte sich die Vermischung antisemitischer und nationalistischer Tendenzen besonders markant in der Nachkriegszeit.
Dass in einem Überblickswerk vieles nur angerissen und nicht vertieft werden kann, werden die LeserInnen vor allem daran merken, dass das Kapitel "Emigration, Flucht und Deportation 1933-1945" ganze 30 Seiten umfasst. Für den kurzen Zeitraum ist hier entsprechend des Umfangs des ganzen Bandes von 175 Seiten ausreichend Platz gegeben worden, dennoch bleibt am Ende die Frage offen, ob durch das Format eines Handbuches der Singularität und dem Ausmaß der Shoah gerecht werden kann und können sollte. Brinkmann zieht daraus eine inhaltliche Konsequenz und zeigt in der Thematisierung der Kriegszeit beispielhaft auf, dass in der Erforschung über Jüdinnen und Juden auf der Flucht und im Exil noch viele Lücken bestehen.
Im Kapitel "Gepackte Koffer und neue Zuwanderer" wendet sich Brinkmann der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu. Er nennt es eine "andere Geschichte" (155) und konzentriert sich einerseits auf die Situation der Displaced Persons und andererseits auf die Migration und Vernetzung von Jüdinnen und Juden zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland. In beiden Fällen skizziert Brinkmann erneut die herausragende administrative und logistische Rolle, die Hilfsorganisationen im Transitprozess spielten. Sowohl nach Ende des Zweiten Weltkriegs als auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren sie es, die die Menschen auffingen, versorgten, und ihnen die Reise zu ihrem neuen Bestimmungsort ermöglichten. Brinkmann endet mit dem Schwenk zu der neuesten Einwanderungsbewegung von Jüdinnen und Juden nach Deutschland Anfang der 1990er bis in die 2000er: Anhand der Kontingentflüchtlinge aus Osteuropa und dem heutigen Russland skizziert Brinkmann den Auftakt eines "neues Kapitel deutsch-jüdischer Geschichte" (182).
Tobias Brinkmann schreibt durchgängig in einem leicht zugänglichen Stil, der an ausgesuchten Stellen ins Detail geht. Er vermag es, eloquent über den langen Zeitraum seiner Studie hinweg Verbindungen zwischen den Orten, individuellen und institutionellen Akteuren herzustellen. Die Eingangsthese, dass die allgemein deutsche Geschichte und die deutsch-jüdische Geschichte in ähnlichen Etappen anzulegen ist, verwundert nicht eigentlich nicht wird aber konsequent belegt. Brinkmann stellt mit seiner Erzählung über den deutschen Anteil der jüdischen Diaspora nicht nur einen wertvollen Beitrag zur jüdischen Globalgeschichte dar, sondern auch ein hervorragendes Beispiel von Transnationalität als Forschungskonzept vor.
Anmerkungen:
[1] U.a. Tobias Brinkmann: http://www.ieg-ego.eu/en/threads/europe-on-the-road/jewish-migration, in: European History Online (EGO), published by the Institute of European History (IEG), Mainz 2010.; From Immigrants to Supranational Transmigrants and Refugees: Jewish Migrants in New York and Berlin before and after the "Great War" in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 30 (2010), 47-57.
[2] Ders.: Von der Gemeinde zur "Community": Jüdische Einwanderer in Chicago 1840-1900, Osnabrück 2002.
[3] Klaus Hödl: Kultur und Gedächtnis, Paderborn 2012.
Julia Kleinschmidt