Ulrike Jureit: Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg: Hamburger Edition 2012, 445 S., mit Extraheft, ISBN 978-3-86854-248-6, EUR 38,00
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Seit zwei Jahrzehnten ist eine "Wiederkehr des Raumes" [1] in den Geschichts- und Kulturwissenschaften zu beobachten. Der so genannte spatial turn führte zu neuen theoretischen Ansätzen und stellte vor allem den Konstruktcharakter von politischen und sozialen Räumen als Ergebnis gesellschaftlicher und politischer Zuschreibungsprozesse in den Fokus. Dieser Forschungsrichtung ist auch Ulrike Jureits Studie verpflichtet, die die deutschen kulturellen und sozialen Praktiken beleuchtet, die zu "Entstehung, Wandel und Transformation räumlicher Ordnungen" (12) im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert beigetragen haben. Das "Ordnen von Räumen" konzeptualisiert Jureit als Praktiken der Wissensproduktion und -operationalisierung. Wissen, Raum und Macht sind hier eng miteinander verwoben. Wissensproduktion über einen spezifischen Raum kommt dessen (symbolischer) Aneignung gleich, die Operationalisierung dieses Wissens im Kontext staatlicher Territorialpolitik dient der Ausübung und Aufrechterhaltung von Macht. Jureit zeigt so, welche Funktion Raum als diskursive Ressource innehatte. Raum wird auf diese Weise zur erkenntnisleitenden Kategorie, die Zugang zu einem Verständnis politischen und gesellschaftlichen Handelns ermöglicht.
Jureit leitet ihre Studie mit einem umfassenden Überblick über die raumorientierte Forschung und die unterschiedlichen Konzeptualisierungen von Raum ein. Anschließend beschreibt sie ein zentrales Moment der Genese des modernen Raumverständnisses: die sich verändernden Territorialisierungspraktiken im 17. Jahrhundert, die nicht getrennt von der Entwicklung der modernen Nationalstaatsbildung zu denken sind. Die Herausbildung von nationalen Flächenstaaten mit eindeutigen Grenzen ging mit dem Bedarf einer organisierten Form der Raumvermessung einher. Die Entwicklung "wissenschaftlicher" Techniken, etwa der Entwicklung normierter kartographischer Methoden, muss dabei als Initialmoment der Institutionalisierung räumlicher Wissensproduktion gedeutet werden. Gleichzeitig veränderte sich die räumliche Wahrnehmung von der punktuellen Wahrnehmung von Orten zur umfassenderen Wahrnehmung von Territorien.
Im Zentrum der Studie stehen die Verdichtungen deutscher Raum-Diskurse des 19. und 20. Jahrhunderts: die koloniale Territorialpolitik im späten 19. Jahrhundert, die Expansionspolitik in Osteuropa im Ersten Weltkrieg, die territoriale Beschneidung des deutschen Staates in Folge des verlorenen Weltkrieges und die nationalsozialistische Eroberungspolitik.
Am Beispiel der kolonialen Grenzziehungspraktiken deutet Jureit die koloniale Territorialpolitik als Versuch, europäische Territorialkonzepte und räumliche Wissensbestände in den kolonialen Raum zu transferieren, so etwa das Konzept des territorialen Flächenstaates. Die Folge waren Grenzziehungen, die dem Bedürfnis der Kolonialmächte entsprachen, jedoch mit den sozio-politischen Gegebenheiten der indigenen Bevölkerung nichts gemein hatten. Als zentrales Moment für die Entwicklung deutscher Raum-Diskurse wird die Biologisierung des Raumes durch einen Transfer biologischer Wissensbestände in die Geographie durch Friedrich Ratzel und andere gedeutet. Staaten wurden folglich als "bodenständige Organismen" (135) verstanden, die sich in einem ständigen "Kampf um Raum" mit anderen Staaten befanden. Die Anwendung biologischer Begrifflichkeiten ermöglichte eine Gleichsetzung des "Kampfes um Raum" mit einem "Kampf ums Dasein" (149). Expansion und Kolonisierung wurden zu einer Überlebensfrage von Staaten stilisiert und im Lebensraumbegriff zu einem griffigen Konzept verdichtet.
Während des Ersten Weltkrieges verlagerte sich das deutsche Interesse auf den europäischen Osten. In Ober-Ost kamen die auf dem afrikanischen Kontinent erprobten kolonialen Ordnungspraktiken, die von einem von deutscher Kulturmission geprägten Selbstbild und wirtschaftlicher Ausbeutung geprägt waren, erneut zum Einsatz. Genau wie auf dem afrikanischen Kontinent sahen sich die Deutschen hier einem Raum gegenübergestellt, über den sie wenig wussten (167), und den sie als chaotisch und schmutzig wahrnahmen. Diese auf den Osten gerichteten diskursiven Zuschreibungen wurden dabei zu Legitimationsfiguren einer deutschen Vormacht, wobei vor allem mit der Imagination des Ostens als "leerer Raum" Ober-Ost "zum kolonialen Inventar" umgedeutet werden konnte (178). Einen tiefen Einschnitt im deutschen territorialen Ordnungsdenken bildeten die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die territorialen Abtretungen. Jureit verdeutlicht am Beispiel des
Selbstbestimmungsrechts der Völker die alliierten Grenzziehungspraktiken, die nach dem Zusammenbruch der Imperien den ostmitteleuropäischen Raum neu ordnen sollten. Ihnen stellt sie die deutsche Position gegenüber; die Neuverhandlung räumlicher Ordnungskonzepte sowie des deutschen territorialen Selbstverständnisses wurden dabei zu Schlüsselmomenten deutscher Raum-Diskurse: Die nicht akzeptierten Gebietsabtretungen erforderten eine Neuverhandlung der Wissensbestände über die eigene räumliche Verfasstheit, die nun jenseits der aktuellen politischen Grenzen neu konzeptualisiert werden musste. Das territoriale Ordnungsdenken in völkischen Kategorien erfuhr hier seinen Durchbruch. Nach der Machtübergabe wurde der Lebensraumbegriff schließlich zum Inbegriff rassischen Ordnungsdenkens. Dabei schlossen die Diskurse nach 1933 zwar formal an das "Volk ohne Raum"-Theorem der Weimarer Republik an, die räumlichen Ordnungskonzepte wurden jedoch mehrfach neu verhandelt und angepasst. Die wohl folgenreichste Neukonzeptualisierung war die diskursive Verbindung zwischen Raum und Rasse. War der europäische Osten während des Ersten Weltkrieges als ein "leerer Raum" imaginiert worden, galt er nun als ein nach rassischen Kriterien zu leerender und zu homogenisierender Raum. Das "Ordnen von Räumen" wurde zur Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik.
Jureits Studie ist detailreich und basiert auf einem breiten Quellenkorpus. Akribisch genau zeichnet sie die deutschen Raum-Diskurse nach, ohne sie jedoch als eine unausweichliche Entwicklung zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik darzustellen. Sie zeigt, wie die deutschen Wissensbestände über Raum stets neu verhandelt und bestehende Konzepte wie Lebensraum mit neuen Bedeutungsgehalten versehen wurden. Auf diese Weise wird deutlich, wie die nationalsozialistische Lebensraum-Politik auf bereits etablierte Konzepte aufbauen und diese in die eigenen Argumentationslogiken einbauen konnte. Eine besondere Aufmerksamkeit erfahren Landkarten, die hier nicht mehr nur als objektive Abbildungen der Realität aufgefasst, sondern als kulturelle Praktiken der Produktion und Medialisierung von spezifischen politischen Raumbildern in die Analyse einbezogen werden. [2] Obwohl die hier beschriebenen Stationen deutscher Raumobsession bereits bekannt sind, gelingt es Jureit auf diese Weise, einen neuen Blickwinkel auf den Themenkomplex zu einzunehmen.
Anmerkungen:
[1] Jürgen Osterhammel: Die Wiederkehr des Raumes. Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie, in: Neue Politische Literatur 3 (1998), 374-397.
[2] Die besprochenen Karten sind (farbig) in einem beiliegenden Sonderheft abgedruckt, Randbemerkungen im Fließtext verweisen auf die einzelnen Karten.
Agnes Laba