Dittmar Dahlmann / Anke Hilbrenner / Britta Lenz (Hgg.): Überall ist der Ball rund. Zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa. Nachspielzeit, Essen: Klartext 2011, 456 S., ISBN 978-3-8375-0297-8, EUR 29,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Dittmar Dahlmann (Hg.): Hundert Jahre Osteuropäische Geschichte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005
Mit der 'Nachspielzeit' setzen Dittmar Dahlmann, Anke Hilbrenner und Britta Lenz den Schlusspunkt unter die von ihnen herausgegebene Trilogie Überall ist der Ball rund. Selbst wenn diese kein geografisch und zeitlich umfassendes Handbuch darstellt, kommt dem Bonner Team das Verdienst zu, dem Fußball seinen gebührenden Platz in der osteuropäischen Geschichte verschafft zu haben.
Anders als die beiden ersten, 2006 und 2008 erschienenen Bände ist der jüngste nicht nach Ländern, sondern nach thematischen Gesichtspunkten geordnet. Auf diese Weise werden noch stärker Grundlinien deutlich, die über Staatsgrenzen hinaus zu bestimmten Zeiten ihre Wirkung entfaltet haben. So prägten nicht nur die Auflösung der Vereine und die Unterstellung der Sportklubs unter Betriebe, Ministerien oder die Armee den Fußball in allen Gesellschaften sowjetischen Typs, sondern auch direkte Eingriffe von Parteifunktionären in die Ligastrukturen und in den Transfer"markt". Es sind eben diese politische Einflussnahme auf den Fußball und die Frage, wie viel Autonomie und "Eigensinn" dieser gleichwohl bewahren konnte, die die Beiträge zur DDR (Dahlmann), zu Polen (Albert S. Kotowski), zur böhmischen Provinz (Stefan Zwicker), zu Baschkirien von den Anfängen bis in die 1970er Jahre (Marsil Farkhshatov) und zu Aserbaidschan (Eva-Maria Auch) als Klammer zusammenhalten.
Die polnische Sportberichterstattung blieb, wie Gregor Feindt am Beispiel der polnisch-sowjetischen Länderspiele 1957 darlegt, staatlich gelenkt, blass und gegenüber der Sowjetunion unterwürfig. Sie kann daher - im Gegensatz zum (Zuschauer-)Sport selbst - nicht als Ventil interpretiert werden, das es erlaubt hätte, Rivalitäten innerhalb des Ostblocks kanalisiert abzureagieren. Jörg Ganzenmüller kommt in seiner Analyse des Fachblatts "Sovetskij sport" in der nachstalinistischen Periode zu einem differenzierten Ergebnis. Einerseits beobachtet er eine Entpolitisierung der Sportberichterstattung. Andererseits spiegelt diese insgesamt das gestiegene außenpolitische Selbstbewusstsein der Sowjetunion wider. Schließlich bildeten die vorgeblich der Fußballtaktik gewidmeten Debatten einen weit über den Sport hinausgehenden Diskurs über das Verhältnis von Individuum und Kollektiv in der Chruščev-Ära. Für die beiden letztgenannten Artikel gilt, dass sie auf überzeugende Weise die Sportgeschichte in ihrer Interaktion mit Politik- und Gesellschaftsgeschichte erzählen und so in einen breiteren Kontext stellen, dass sie aber den spezifischen Kontext der Entwicklung der poststalinistischen Propagandasprache in der Sowjetunion und Polen sowie den linguistischen Forschungsstand nicht in ihre Betrachtungen einbeziehen.
Stefan Wellgraf erklärt unter Rückgriff auf Machttheorien Max Webers, mit Hilfe der Unterscheidung von symbolischem und ökonomischem Kapital im Sinne Pierre Bourdieus sowie in Anlehnung an Marcel Mauss' ethnologische Studie zur Kraft der Gabe das Interesse ukrainischer Oligarchen an der Unterstützung der nationalen Spitzenvereine Šachtar Donec'k und Dynamo Kyïv. In Polen, so das Fazit von Kotowskis Kurzüberblick über die polnische Fußballgeschichte von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, verstärkte die Systemtransformation mit ihren Privatisierungen eine seit den frühen 1980er Jahren bestehende Krise und bereitete den Boden, auf dem die große Korruptionsaffäre, die im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhundert aufbrach, heranwachsen konnte.
Die ambivalenten Funktionen des Sports in Straflagern, die von spezifischen Formen des Missbrauchs und der Ausbeutung der Insassen bis zu deren psychischer Stabilisierung und zur Aufwertung ihrer Lebensqualität reichen konnten und individuell durchaus unterschiedlich wahrgenommen wurden, untersuchen Wladyslaw Hedeler und Roland Bude. Als Beispiel dienen die Erinnerungen Budes an seine Zeit im sowjetischen Gulag. Matthias Winterschladen wendet mit großem Gewinn das Kulturtransferkonzept an, um die Ausbreitung des Fußballs im zentralrussischen Industriegebiet zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Notwendig für den Erfolg des Fußballs war zwar die Anwesenheit von Engländern mit einschlägiger Kompetenz, vor allem aber die Bereitschaft von Teilen der einheimischen Bevölkerung im urbanen Milieu, den Fußball mit "fortschrittlichen Werten" zu verbinden, als "moderne Freizeitkultur" zu importieren und als Gegenstück zum ständisch verfassten zarischen Russland zu inszenieren (201 f.). Im agrarisch geprägten Griechenland, so Konstantin Loulos, wäre der Aufschwung des Fußballs in den 1920er Jahren ohne den Zustrom und die Integration politisch progressiver Flüchtlinge nach der "kleinasiatischen Katastrophe" sowie dem damit verbundenen Urbanisierungsschub nicht denkbar gewesen.
Mit den Autobiografien jugendlicher Juden, die diese für die Wettbewerbe des YIVO (Yidisher Visnshaftlekher Institut) im Wilna der Zwischenkriegszeit verfassten, erschließt Hilbrenner einen neuen Quellentyp für die Erforschung des Breitensports. In ihrer Analyse arbeitet sie überzeugend heraus, dass der Sport von den jüdischen Jugendlichen als Gegensatz zu Bildung und Lektüre verstanden und als vorübergehende Leidenschaft dargestellt wurde. Es handelte sich um eine Episode körperlicher Selbsterfahrung im (männlichen) Reifungsprozess, die in einer traditionellen jüdischen Umgebung einen kathartischen Effekt hatte. Der Sport stehe in diesem Sinne "für ein neu verstandenes Judentum, in dem Körperlichkeit und Durchsetzungskraft eine wichtige Rolle" spielen (245). In zwei chronologisch aufeinanderfolgenden Beiträgen liefert Zwicker eine materialreiche Fallstudie zum Fußball in der böhmischen Provinz. In Teplitz-Schönau (Teplice-Šanov), das bis zum Zweiten Weltkrieg eine deutsche Bevölkerungsmehrheit und eine große jüdische Minderheit besaß, war der nationale Antagonismus zwischen Deutschen und Tschechen im Fußball während der Zwischenkriegszeit vergleichsweise unbedeutend. Die im Sport erworbene Popularität verschaffte einzelnen deutschen Spielern und Trainern die Möglichkeit "als Tscheche[n] 'durchzugehen'" (363) und deshalb ihre Karriere nach 1945/1948 in der Tschechoslowakei fortzusetzen. Die Ligazugehörigkeit des unter wechselnden Namen auftretenden wichtigsten lokalen Vereins hing in der kommunistischen Zeit nicht nur von den sportlichen Resultaten, sondern auch stark von sportpolitischen Weichenstellungen ab.
Weitere Fallstudien in Form von Vereinsgeschichten aus Rumänien (Chinezul Timişoara, Sebastian Balta), Bosnien-Herzegowina (F.K. Velež Mostar, Mujo Koluh) und Bulgarien (PFK Levski, Gergana Ghanbarian-Baleva) runden den lesenswerten Band ab. Insgesamt belegt auch der letzte Teil der Trilogie, dessen Fragestellungen insbesondere an die Kulturgeschichte des Politischen und der Gewalt, die Nationalismus- und Minderheitenforschung sowie die Geschlechter- und Mediengeschichte anschlussfähig sind, eindrücklich die Relevanz der Beschäftigung mit Körperkultur und Sport für das Verständnis der Geschichte Osteuropas.
Stefan Wiederkehr