Rezension über:

Edvin Pezo: Zwangsmigration in Friedenszeiten? Jugoslawische Migrationspolitik und die Auswanderung von Muslimen in die Türkei (1918 bis 1966) (= Südosteuropäische Arbeiten; Bd. 146), München: Oldenbourg 2013, 374 S., ISBN 978-3-486-70718-2, EUR 49,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Nenad Stefanov
Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Nenad Stefanov: Rezension von: Edvin Pezo: Zwangsmigration in Friedenszeiten? Jugoslawische Migrationspolitik und die Auswanderung von Muslimen in die Türkei (1918 bis 1966), München: Oldenbourg 2013, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 7/8 [15.07.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/07/20526.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Edvin Pezo: Zwangsmigration in Friedenszeiten?

Textgröße: A A A

Die Auseinandersetzung mit Migration in historischer Perspektive hat im letzten Jahrzehnt einen bedeutenden Aufschwung erlebt. Auch im Kontext der Forschung zur Südosteuropa ist seitdem ein migrationshistorischer Ansatz von zunehmender Bedeutung. [1] Edvin Pezo verbindet in seiner Monographie zudem dieses relativ neue Forschungsfeld mit einem weiteren, das zwar nicht zuletzt durch die Jugoslawien-Kriege von große Relevanz, aber doch noch wenig erkundet ist: die Auseinandersetzung mit nicht-slawischen Muslimen und Islam in Europa in der post-imperialen Epoche. [2] Während die slawisch-sprachigen Muslime (etwa die Bosniaken) seitens der Protagonisten des serbischen, bulgarischen und kroatischen Nationalismus jeweils als irregeleitete Töchter und Söhne betrachtet wurden, die rasch ins nationale Ganze integriert werden sollten, war das Verhältnis gegenüber den nichtslawischen Muslimen, die der türkischen oder albanischen Nation zugerechnet wurden, seitens der Protagonisten der neuen Nationalstaaten von Misstrauen geprägt. Dieses schwand auch nicht in der neuen multiethnischen und -konfessionellen Gesellschaft des Königreichs Jugoslawien, bzw. des sozialistischen Jugoslawien, die im Mittelpunkt der Untersuchung steht.

Edvin Pezo nimmt sich damit eines bis in die Gegenwart umstrittenen Gegenstandes an, dessen Brisanz gerade in den letzten beiden Jahrzehnten durch die Kriege in Jugoslawen sich nur noch gesteigert hat. "Zwangsmigration in Friedenszeiten?" der Titel der Arbeit ist zugleich Programm: Der Autor konzentriert sich auf die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft, auf Zielvorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung und Praktiken staatlicher Akteure, etwa wie der jugoslawische Staat in "Friedenszeiten denjenigen Muslimen begegnete, die in die Türkei emigrieren wollten" (28). Im Vordergrund steht damit die "staatliche Kontrolle und Intervention von Migrationsbewegungen". (30) Der Autor verfährt dabei nicht chronologisch, vielmehr geht Pezo nach Themen strukturiert der Frage nach, ob es sich um Zwangsmigration in Friedenszeiten handelte.

Mit einem einleitenden Rekurs auf die "Ausgestaltung serbischer Raumwahrnehmungsmuster" steckt Pezo den ideologischen Rahmen, der zumindest im ersten Jugoslawien maßgeblichen staatlichen Akteure ab. Diese sahen es als gleichsam natürlich an, dass die "Türken" in ihre "Heimat" Türkei zurückkehren sollten. [3] Es folgt eine "statistische Annäherung" in der in einer ausführlichen Auseinandersetzung (51-86) mit dem vorhandenen Zahlenmaterial und den damit verbundenen Kontroversen einen Näherungswert bestimmt werden soll. Nach Pezo lässt sich für das Königreich Jugoslawien von etwa 60 000 bis 70 000 Emigranten ausgehen. (77) Für das sozialistische Jugoslawien, den Zeitraum zwischen 1945 bis 1966, deren Hochphase er auf die Jahre zwischen 1954 und 1958 eingrenzt, kommt Pezo im Vergleich des zur Verfügung stehenden Datenmaterials auf eine Zahl von 173000 Emigranten. Damit distanziert sich Pezo von Schätzungen die zwischen einer halben Million insgesamt und über 1.000.000, die auch in der wissenschaftlichen Literatur kolportiert wurden. Es folgt die Darstellung der Zielvorstellungen der Migrationspolitik, jeweils für die Zwischenkriegszeit und die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte. Diesen werden danach die staatlichen Praktiken für beide behandelte Zeiträume gegenübergestellt. In einem weiteren thematischen Kapitel wird die Interaktion zwischen Jugoslawien und der Türkei auf staatlicher Ebene anhand der Verhandlungen über mögliche Abkommen zur Umsiedlung/Migration untersucht. Schließlich geht Edvin Pezo auf einen Aspekt ein, der notwendig durch die Geschehnisse in den 1990er Jahren bei diesem Thema immer im Mittelpunkt steht: Gewalt. Abschließend konzentriert sich Pezo auf die Steuerungsversuche der Migration von Muslimen, bzw. Türken und Albanern im sozialistischen Jugoslawien.

In seine insgesamt ausgesprochen akribische Untersuchung, auf einem umfangreichen Quellenstudium in den Archiven in Belgrad, Skopje, Tirana und Zagreb basierend, schließt Pezo auch eine kritische Auseinandersetzung mit der bisherigen, insbesondere der lokalen Forschung ein.

Es zeigt sich, dass in dem neuen Königreich der Serben Kroaten und Slowenen (Kraljevina SHS) ein beträchtlicher Teil der politischen Elite in Belgrad davon ausging, dass die Muslime im südlichen Gebieten des neuen Landes, die bis 1913 Teil des Osmanischen Reiches gewesen waren, in der Zukunft nicht als integraler Bestandteil des neuen Gemeinwesens sein würde. Diese sollten nach Möglichkeit zur Auswanderung "bewegt" werden. Allerdings sollten solche Zielvorstellungen in einer Zeit grundlegender Gesellschaftlicher Umbrüche nur mit Mühe umgesetzt werden. In welchem institutionellen Kontext Migrationspolitiken praktiziert wurden, vergegenwärtigt die Tatsache, dass im Königreich SHS erst 1928 ein gesamtstaatliches Staatsangehörigkeitsrecht in Kraft trat. (103) Dies bedeutete allerdings nicht, dass Druck auf die Migration von Muslimen nicht existierte. Im Gegenteil, flankiert mit der Kolonisierungspolitik "zuverlässiger" südslawischer Familien in Teilen Kosovos und Makedoniens, waren die Regierungen in Belgrad bestrebt dieses Ziel zu erreichen. Rechtlich sanktioniert sollte dies durch einen Vertrag mit der Türkei werden, der allerdings vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges nicht mehr zustande kam. Pezo spricht denn auch für die Zwischenkriegszeit von "verschiedenen Zwangsmomenten" (154) zu denen auch die Erfahrung von Gewalt zählte, etwa bei Umsiedlungen von Dörfern. (257)

Der Autor sieht allerdings darin nicht die erfolgreiche Durchsetzung des Staates, sondern dessen Scheitern bei der Integration jener Gebiete in denen Muslime lebten. Staatliche Gewalt bewirkte nicht Disziplinierung, vielmehr Verunsicherung und die Erfahrung chaotischer Verhältnisse, die mit zu einem Motiv für die Auswanderung wurden. (228) Dabei grenzt sich Pezo von dem Begriff der "ethnischen Säuberung" ab, der mitunter für die 1920er Jahre verwendet wird, und schlägt dagegen "zwangsmigratorische Maßnahmen" als Qualifikation der staatlichen Praktiken vor (287). Auch für das sozialistische Jugoslawien, wo sich insbesondere in Kosovo gewaltsame Repression in den 1950ern Jahren gegenüber der albanischen Bevölkerung intensivierte, zieht Pezo ebenso den Begriff der "ethnischen Säuberung" in Zweifel und betont, dass im Gegensatz zum Vorkriegsjugoslawien die neue kommunistische Staatsführung keine "gezielte Auswanderungspolitik" verfolgte. Vielmehr sei Migration in dieser Epoche im Zusammenhang mit der spezifischen Vorstellung von Modernisierung der kommunistischen Herrschaft zu sehen, und der damit verbundenen Stigmatisierung der nichtslawischen muslimischen Bevölkerung als rückständig. (334)

Insgesamt handelt es sich bei der Arbeit von Edvin Pezo um eine minutiöse Untersuchung von staatlichen Praktiken im Hinblick auf die Durchsetzung von Zielvorstellungen zur Migration nichtslawischer Muslime, den diese begleitenden öffentlichen Diskursen, sowie der Bedeutung der Beziehungen zwischen Jugoslawien und der Türkei in einer Zeit tiefgreifender Umbrüche in den ersten fünf Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Das Buch bietet zugleich eine wichtige Orientierung in dem es auch eine Art Resümee der wissenschaftlichen und publizistischen Veröffentlichungen zu diesem Thema in der Region selbst und darüber hinaus leistet.

Nützlich wäre sicher eine stärkere Kontextualisierung von staatlicher Migrationspolitik in einem breiteren europäischen Rahmen gewesen: Wie weit waren die Praktiken und Diskurse Teil eines größeren europäischen Ganzen, gerade nach 1919? Oder waren die Antworten auf die Herausforderungen gesellschaftlicher Differenz spezifisch für die Region? Dabei handelt es sich weniger um ein Defizit der Studie, als vielmehr darum, dass diese zu weiteren Fragen anregt und ihr Autor zum Schluss auf einen zentralen Aspekt hinweist der noch eingehender Forschung bedarf: die Geschichte der Migration aus der Perspektive der Migranten.


Anmerkungen:

[1] Holm Sundhaussen: Geschichte Südosteuropas als Migrationsgeschichte. Eine Skizze, in: Südost-Forschungen 65/66 (2006/2007). München 2008, S. 422-477. Ulf Brunnbauer / Karolina Novinš ćak / Christian Voß (Hgg.): Gesellschaften in Bewegung. Emigrationen aus und Immigration nach Südosteuropa (= Südosteuropa-Jahrbuch, Bd. 38), München 2011.

[2] Vgl. Dietmar Müller: Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzepte 1878-1941, Wiesbaden 2005.

[3] Zur Problematik eines solcherart "exterritorialisierenden" Begriffes von Heimat für die Muslime des Balkan vgl. die beeindruckende Arbeit von Burcu Akan Ellis: Shadow genealogies: memory and identity among urban Muslims in Macedonia, New York 2003.

Nenad Stefanov