Rezension über:

Joachim Bahlcke: Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit (= Enzyklopädie deutscher Geschichte; Bd. 91), München: Oldenbourg 2012, XIII + 165 S., ISBN 978-3-486-55046-7, EUR 19,80
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Rezension von:
Tilman Haug
Historisches Institut, Universität Bern
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker / Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Tilman Haug: Rezension von: Joachim Bahlcke: Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit, München: Oldenbourg 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 7/8 [15.07.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/07/21330.html


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Joachim Bahlcke: Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit

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Wer in einem "frei zusammenstellbaren Handbuch" (wie die "Enzyklopädie Deutsche Geschichte" mittlerweile beworben wird) auf engstem Raum einen Teilband zu einem der fruchtbarsten Forschungsfelder der deutschen Frühneuzeithistoriographie schreiben soll, steht sicher vor keiner einfachen und dankbaren Aufgabe. Das gilt umso mehr, als der zu behandelnde Themenbereich gerade in den letzten Jahren einen enormen Wachstums- und Diversifizierungsschub mit entsprechendem Literaturausstoß erfahren hat. Dass der Verlag, der den Lesern nicht weniger als "das Wichtigste in komprimierter Form" verspricht, auch noch eine feste Struktur vorgibt, die Redundanzen oft kaum vermeidbar macht, erschwert das Unterfangen noch zusätzlich.

Umso erfreulicher ist die Art und Weise, in der Joachim Bahlcke diese Herausforderung mit in dem hier zu besprechenden EDG-Teilband souverän und gekonnt meistert.

Dem obligatorischen Aufbau der Reihe folgend, gibt der Autor zu Beginn einen klug aufgebauten enzyklopädischen Überblick. Bahlcke geht dabei zunächst auf das Alte Reich als politischen Rahmen und seine unübersichtliche, auch für Zeitgenossen oft unklare Struktur sowie die besonderen Bedingungen politischer und kultureller Identitätsbildung ein. Anschließend werden die Grundzüge territorialer Staatsbildung gründlich und mit großer begriffsgeschichtlicher Übersicht erläutert, wobei auch die Vielfalt ihrer Erscheinungsformen - etwa die Verschränkung weltlicher und geistlicher Herrschaftsrechte in der "Germania sacra" - Beachtung findet.

Der weitere Aufbau dieses Übersichtskapitels orientiert sich am Dualismus von Fürst und Ständen. Zunächst werden die Grundlinien landesherrlicher Institutionenbildung etwa im Fiskal- und Kriegswesen analysiert, wobei der Autor auch hier der Vielfalt von Staatsbildungen im alten Reich und das konfessionell zu differenzierende Verhältnis von Staat und Kirche herausarbeitet. Darauf folgt ein forschungsgeschichtlich fundiertes Kapitel zu den Ständen als "zweiter Gewalt", die völlig überzeugend als komplementärer und nicht zwangsweise widerständiger Faktor der Staatsverdichtung beschrieben werden.

Abschließend geht Bahlcke auf die Debatte um die "komplementäre Staatlichkeit" des Alten Reiches und die Frage, ob es als "frühmoderner Staat der deutschen Nation" gelten kann, ein. Er kommt hier zu einem ausgewogenen Urteil, indem er eine staatsartige Ordnungsfunktion des Reiches zugesteht, aber zugleich die Leistung des politischen Gesamtgefüges für eine deutsche Nationsbildung skeptisch sieht (57 f.).

Im zweiten Teil erfolgt eine Analyse der Grundprobleme und Tendenzen der Forschung zum Territorialstaat des Alten Reiches, die angesichts der kaum noch überblickbaren Fülle von Forschungen etwas um Ordnung ringt. Zunächst werden Konzepte von "Staat" und "Herrschaft" im deutschsprachigen Raum forschungs- und begriffsgeschichtlich analysiert. Von großem praktischem Wert für Studierende und Lehrende sind in diesem Zusammenhang die Einführung in Gesamtdarstellungen zur Problematik und vor allem der informative und sinnvoll kategorisierende Überblick über die Quellen (66-74).

Mit der Frage nach der politischen und sozialen Reichweite territorialer Staatsbildung widmet Bahlcke einem in den letzten Jahren intensiv erforschten Themenkomplex ein eigenes Kapitel. Hier verweist er vor allem auf einen wachsenden Methodenpluralismus, der "etatistische" Perspektiven durch stärker mikrohistorische Ansätze ergänzt und ein differenzierteres Bild der Umsetzung von Staatsbildung auf lokaler Ebene ermöglicht (77ff.). Dies exemplifiziert Bahlcke anhand der Herausbildung des Amts- und Behördenapparates und der inzwischen sehr zahlreichen Forschungen zur "guten Policey", die zeigen, wie staatliche Normensetzung und die Interessen lokaler Akteure ineinander wirken konnten.

Nach einer Vertiefung der bereits angerissenen Themenbereiche Fiskal- und Militärwesen, bei der der Autor auch auf einzelne Forschungsdesiderate verweist, folgen eine kurze Abhandlung der Frage nach ständischer Partizipation an der Staatsbildung, die die auch forschungsgeschichtlich wichtige Debatte um Vorläufer des Parlamentarismus in Deutschland anschneidet (92f.) und eine Erörterung der Koexistenz geistlicher und territorialstaatlicher Gewalten, die unter anderem die für übergreifende Synthesen wenig förderliche Fragmentierung der diesbezüglichen Forschungslandschaft beklagt (96).

Darauf folgt ein Überblick zu der auch für Herrschaftsverbände innerhalb des Reiches charakteristischen Struktur einer "zusammengesetzten Herrschaft", die oft aus überaus heterogenen politischen Gebilden bestand, sowie der Bedeutung von korporativen und "supraterritorialen" Zusammenschlüssen wie Fürsten- und Städtevereinen aber auch der erst in jüngster Zeit verstärkt erforschten Reichskreise (100f.).

Abgerundet wird dieser sehr dichte Forschungsüberblick durch ein drittes Kapitel, in dem der Autor einzelne Forschungsdebatten, deren Höhepunkt zumeist schon einige Zeit zurückliegt, die aber den Fachdiskurs noch immer prägen, erörtert. Hierunter fällt die Frage, ob frühneuzeitliche Staatsbildung eher mit Säkularisierungsprozessen oder forcierter Konfessionalisierung einherging, die Debatte um die Handlungsspielräume gemeindlicher Organisationsformen im Verhältnis zu landesherrlicher Territorialherrschaft, ebenso wie die Implikationen der europaweit geführten Debatte um den "Mythos Absolutismus" für Forschungen zu Norm und Praxis von Landesherrschaft.

Mit den Spezifika der komplexen Herrschaftsstruktur geistlicher Staaten benennt der Autor dagegen zum Schluss ein aktuelles Forschungsfeld, das trotz der zum Jubiläum des Reichsdeputationshauptschlusses erschienen Literatur bei weitem nicht ausgeschöpft ist.

Insgesamt bietet Bahlcke einen sehr gelungenen, nahezu umfassend informierenden aber zugleich sehr differenzierten Überblick, der dem Leser eine hoch willkommene Übersicht über eine zunehmend unüberblickbare und spezialisierte Forschungslandschaft ermöglicht. Dabei gelingt es ihm trotz der Dichte der Darstellung immer wieder, Themenbereiche durch den geschickten Einsatz von Quellenbeispielen zu veranschaulichen. Die angestrebte Norm der komprimierten "Essentials" wird hier exemplarisch übererfüllt.

Wer angesichts der Ausgewogenheit des Bandes und der Vielzahl der erschlossenen Themen und Forschungsfelder und des immer wieder beschworenen Methodenpluralismus auf nicht ausreichend gewürdigte Bereiche verweist, kommt schnell in den Verdacht, historiographische Interessenpolitik zu betreiben.

Hier sei dennoch darauf verwiesen, dass die Methodenvielfalt der "Neuen Politikgeschichte" den Blick auf Staatlichkeit und "das Politische" grundlegender gewandelt hat, als dies der Band bisweilen nahelegt. Inwiefern der hier vorgeschlagene Ansatz einer umfassenden "Machtstaatsgeschichte" (65) diese Innovationen sinnvoll zu integrieren vermag und nicht -wie manche der vom Autor in diesem Kontext genannten Referenzen nahelegen (65, 81) - lediglich die Forschung in ihre alten Bahnen zurückführt, bleibt fraglich.

In diesem Zusammenhang vermisst man auch jene neueren Forschungen, die die kulturelle Dimension von Staatsbildung und Staatlichkeit hervorgehoben und etwa am Beispiel landständischer Repräsentationsformen die Bedeutung symbolischer politischer Kommunikation für die Legitimierung von Herrschaft und die Bedeutung zeremoniellen Handelns für die politische Kultur in der ständischen Gesellschaft herausgearbeitet haben.

Dies vermag den Wert und die künftige Unverzichtbarkeit dieser gelungenen Gesamtdarstellung als einschlägige und "lehrgeeignete" Einführung im Ganzen jedoch nicht zu schmälern.

Tilman Haug