Emily S. Rosenberg (Hg.): 1870-1945. Weltmärkte und Weltkriege (= Geschichte der Welt; Bd. 5), München: C.H.Beck 2012, 1152 S., 62 s/w-Abb., 16 Karten, ISBN 978-3-406-64105-3, EUR 48,00
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Das Buch Geschichte der Welt: 1870 - 1945 Weltmärkte und Weltkriege ist der erste Band in der Reihe Geschichte der Welt, die von den prominenten Historikern Jürgen Osterhammel und Akira Iriye herausgegeben wird. Der in den sechs Bänden dieser Reihe behandelte Zeitraum erstreckt sich von der Antike bis zur heutigen 'globalisierten' Welt. Die Bände erscheinen gleichzeitig auf Deutsch und Englisch bei C.H. Beck beziehungsweise Harvard University Press.
Das vorliegende Werk wurde von Emily Rosenberg ediert, die auch die Einleitung zum Buch geschrieben hat. Das Buch ist in fünf Teile von jeweils etwa 200 Seiten Länge unterteilt, die sich auch als fünf komplementäre Monografien lesen lassen. Was auf den ersten Blick auffällt, ist die themenorientierte Herangehensweise der jeweiligen Teile des Bandes. Auf diese Weise bricht der vorliegende Band mit der Area Studies-Tradition, in der welthistorisch ausgerichtete Sammelbände üblicherweise regional gegliedert sind. Im Gebiet der Weltgeschichte/Globalgeschichte ist das Werk ein erster Versuch diesen Maßstabs, eine Reihe von Themen-Experten zusammenzubringen, um eine kohärente Geschichte einer spezifischen Periode zu schreiben.
Das erste Kapitel, "Leviathan 2.0. Die Erfindung moderner Staatlichkeit", geschrieben von Charles S. Maier, setzt sich theoretisch mit Prozessen der Territorialisierung auseinander. Im Unterschied zum früheren Modell von Staatlichkeit - Leviathan 1.0 -, das in Europa auf dem Prinzip der Souveränität beruhte, so Maier, kam es im Untersuchungszeitraum zum globalen Siegeszug einer neuen Art Territorialformation, nämlich derjenigen des Nationalstaates. Das nächste Kapitel, "Imperien und Globalität" von Tony Ballantyne und Antoinette Burton ergänzt die Idee von Leviathan 2.0 indem es weniger nationalstaatliche Territorialisierung betrachtet, sondern primär imperialen Machtstrukturen und den sie begleitenden Diskursen der Differenz gewidmet ist. Darüber hinaus diskutieren die Autoren auch Formen des Widerstands gegen koloniale Herrschaft, wie z.B. durch globale anti-imperialistische Netzwerke. Unter dem Titel "Migrationen und Zugehörigkeiten" beschreibt Dirk Hoerder die wichtigsten transregionalen und -kontinentalen Migrationssysteme, erörtert aber auch Binnenmigrationsprozesse in verschiedenen Weltregionen. Darüber hinaus widmet sich der Autor auch Formen von Mobilität die im Zusammenhang mit Kriegen und Wirtschaftskrisen entstehen und problematisiert dabei verschiedene Begriffe, wie z.B. 'freie' und 'erzwungene' Migration. Steven C. Topik und Allen Wells richten ihr Augenmerk auf die ökonomischen Transformationen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Sie verorten sich jenseits eines "traditionellen wirtschaftsgeschichtlichen Ansatz[es]" (684), der nur auf der Analyse von Transport, Kommunikations- und Energiesektor basiert, und widmen über die Hälfte ihres Kapitels dem Thema Warenketten. Dieses Modell geht über die 'Great Divergence'-Debatte hinaus und setzt stattdessen einen Akzent auf die Verflechtungen (entanglements) in der Weltwirtschaft. Das letzte Kapitel im Buch ist von der Herausgeberin Emily Rosenberg selbst verfasst. Unter dem Titel "Transnationale Strömungen in einer Welt, die zusammenrückt", diskutiert die Autorin verschiedene Formen des transnationalen Kontakts, wie etwa Standardisierungsimpulse, die Entstehung internationaler Nichtregierungsorganisationen, die Vernetzung verschiedener Reformbewegungen und die globale Verbreitung von Konsummustern und populärer Unterhaltungsformen wie Zirkus- und Revueshows oder Weltausstellungen.
Die im vorliegenden Band präsentierten Einzelstudien stellen keine originäre Forschung vor, sondern versuchen jeweils eine breite Synthese der entsprechenden Sekundärliteratur zu leisten, um damit eine themenbasierte Globalgeschichte anzubieten. Die Fachexpertise, die Dichte der historischen Details und die präzise Analyse lassen überhaupt keine Zweifel, dass das Buch - wie etwa Jürgen Osterhammels Die Entzauberung der Welt oder Christopher Baylys The Birth of the Modern World - zu einem Standardwerk der jungen Disziplin der Globalgeschichte avancieren wird. Nichtsdestoweniger muss auf einige kritische Punkte hingewiesen werden. Charles Maier z.B. widmet über ein Fünftel seines Teils einer Periode, die außerhalb der für den vorliegenden Band definierten zeitlichen Grenzen liegt. Darüber hinaus datiert Maier im Kontext seiner Diskussion der weltweiten 'Kommodifizierung des Bodens', den physiokratischen Wunsch nach einer Steigerung der Teeproduktion in Indien sehr vage um 1800 (68), obwohl die ersten Teeplantagen in Assam und Darjeeling erst in den 1840er-Jahren entstanden sind. In seiner Diskussion des sogenannten 'Indischen Sepoyaufstandes' von 1857-9 behauptet Maier, dieser habe "augenscheinlich als Meuterei unter den muslimischen Soldaten" begonnen (96), obwohl nur ein Teil der als Sepoys bezeichneten Soldaten Muslime waren. Solche kleinen Ausrutscher verweisen auf die nach wie vor zentrale Bedeutung der Area Studies. Sie hätten aber auch leicht durch sorgfältiges Gegenlesen der im Band versammelten Studien (was allgemein für ein solches Projekt sehr sinnvoll wäre) vermieden werden können: so behandelt Hoerder den Teeanbau in Indien (522), während Ballantyne aufgrund seiner Südasienexpertise die Sepoys gewiss nicht a priori als Muslime eingeordnet hätte. Ferner hätte eine gründliche gegenseitige Lektüre der Texte auch Redundanzen bei den Zitaten vermeiden können - Hillaire Bellocs "Maxim Gun" - Gedicht und Otto von Bismarcks berühmte "Eisen und Blut"-Rede beispielsweise werden gleich vom mehreren Autoren strapaziert. Schließlich ein Wort zum deutschen Titel: 1870 - 1945 Weltmärkte und Weltkriege, unterscheidet sich deutlich vom englischen: A World Connecting: 1870 - 1945. Obwohl interpretationsoffener gehalten, scheint der englische Titel dennoch präziser zu sein. Das Werk erörtert zwar gelegentlich Kausalitäten und Konsequenzen der Weltkriege, geht aber auf die eigentliche Geschichte der Kriege überhaupt nicht ein. Abgesehen von diesen minimalen Schwächen, ist das knapp 1200-seitige Werk jedoch höchst empfehlenswert und wird sich bestimmt nicht nur als bedeutendes Standardwerk für Lehrveranstaltungen zur Globalgeschichte, sondern auch als Nachschlagewerk für die Disziplin allgemein durchsetzen.
Nikolay Kamenov