Rezension über:

Rainald Becker: Nordamerika aus süddeutscher Perspektive. Die Neue Welt in der gelehrten Kommunikation des 18. Jahrhunderts (= Transatlantische Historische Studien; Bd. 47), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, 424 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-10185-1, EUR 62,00
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Rezension von:
Mark Häberlein
Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Otto-Friedrich-Universität, Bamberg
Redaktionelle Betreuung:
Susanne Lachenicht
Empfohlene Zitierweise:
Mark Häberlein: Rezension von: Rainald Becker: Nordamerika aus süddeutscher Perspektive. Die Neue Welt in der gelehrten Kommunikation des 18. Jahrhunderts, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 7/8 [15.07.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/07/22510.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Atlantische Geschichte" in Ausgabe 13 (2013), Nr. 7/8

Rainald Becker: Nordamerika aus süddeutscher Perspektive

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Zur Amerikarezeption im frühneuzeitlichen Mitteleuropa liegen zwar bereits wichtige Studien vor, doch konzentrieren sich diese einerseits auf die Humanisten des 16. Jahrhunderts, andererseits auf das Echo der Amerikanischen Revolution bei (nord-)deutschen Aufklärern. Vor diesem Hintergrund füllt Rainald Beckers Münchner Habilitationsschrift, die sich der süddeutschen Amerika-Wahrnehmung zwischen etwa 1650 und 1776, also in der Epoche des Barock und der Frühaufklärung widmet, nicht nur eine Forschungslücke, sondern nimmt auch eine perspektivische Verschiebung vor: Betrachtete die bisherige Forschung Göttingen, Halle, Hamburg und Berlin als Zentren des deutschen Amerika-Diskurses im 18. Jahrhundert so rücken mit der vorliegenden Studie Augsburg, Ulm, Dillingen, Nürnberg und Altdorf in den Fokus.

Dass sich Rainald Becker der frühneuzeitlichen Amerikarezeption aus der Perspektive des Landeshistorikers nähert, gereicht der Studie in mehrfacher Hinsicht zum Vorteil. Zum einen bringt er das sprachliche Rüstzeug mit, um das Korpus der süddeutschen Amerikaliteratur angemessen auswerten zu können, denn ein beträchtlicher Teil der hier analysierten über 100 Werke von 60 Autoren wurde auf Latein verfasst. Zum anderen geht Becker von der Prämisse aus, dass die territoriale Vielgestaltigkeit und Polyzentralität des Alten Reiches zu einer "Vielfalt der gelehrten und kulturellen Diskurse" sowie zur Herausbildung von unterschiedlichen "Milieus, Wissenszirkeln und Kommunikationskreisen" (16f.) führte. Indem er diese Milieus und Netzwerke jeweils in gesonderten Kapiteln analysiert, gelingt Becker eine präzise Verortung und geistesgeschichtliche Kontextualisierung der Amerikadiskurse.

Im ersten Hauptteil seiner Studie stellt Becker die Voraussetzungen der süddeutschen Amerika-Wahrnehmung dar, indem er die ökonomischen, kirchlichen und diplomatischen Beziehungen in die Neue Welt sowie die süddeutsche Amerikaauswanderung resümiert (Kapitel 3). Hier fällt insbesondere der Abschnitt über die wirtschaftlichen Beziehungen etwas (zu) knapp aus; dass die Fugger "über enge Kontakte nach Mexiko und Panama" verfügt und "intensive Verbindungen in die Region um den Rio de la Plata" unterhalten hätten (34), erscheint übertrieben, während die Nürnberger Amerikakontakte nur gestreift werden. Der anschließende Überblick über das Korpus süddeutscher Amerikaliteratur (Kapitel 4) unterstreicht die Relevanz Augsburgs und Nürnbergs als Verlagsorte zwischen 1650 und 1776; erst im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts verloren die beiden Reichsstädte in dieser Hinsicht stark an Bedeutung. Kapitel 5 stellt die unterschiedlichen Kommunikationsmilieus vor: die jesuitisch geprägten Hochschulen in Dillingen, Freiburg i.Br. und Würzburg, deren Professoren am weltweiten Kommunikationsnetz ihres Ordens teilhatten; die Pietistenzirkel in den Reichsstädten Augsburg und Ulm; die benediktinischen Gelehrten an der Universität Salzburg und in süddeutschen Klöstern; die Elite der Reichsstadt Nürnberg und ihrer Universität Altdorf; sowie die kurbayerischen Hofgelehrten in München. Kapitel 6 erörtert mit den kompilatorischen Verfahren und den kartographischen Visualisierungsstrategien der süddeutschen Gelehrten zwei grundlegende Vermittlungsformen amerikakundlichen Wissens.

Die beiden folgenden Hauptteile der Studie widmen sich den geographischen (Kapitel 7-13) sowie den historiographischen Darstellungen (Kapitel 14-20) der Neuen Welt. Insbesondere in den Kapiteln über die Geographie betritt Becker weitgehend Neuland. So zeigt er, dass die Jesuiten Heinrich Scherer in Dillingen, Gregor Kolb in Freiburg und Heinrich Niderndorff in Würzburg hinsichtlich ihres geographischen Informationsstands auf der Höhe ihrer Zeit waren, ihre Arbeiten jedoch "nicht auf die partikulare Einzelansicht, sondern auf die Synthese der empirischen Vielfalt im Sinn eines ontologischen Erkenntnisauftrags zum Einen im Göttlichen" ausgerichtet waren (91). Im Einklang mit den Missionsschwerpunkten seines Ordens entwarf Scherer ein hispanisch dominiertes Nordamerikabild, das um Mexiko und die spanischen borderlands im Südwesten der heutigen USA zentriert war. Demgegenüber rückten Ulmer Geographen die protestantischen englischen Siedlungen an der Ostküste in den Mittelpunkt. Bei den Nürnberger Kartographen Johann Baptist Homann und Johann Gabriel Doppelmayr entdeckt Becker starke reichs- und lokalpatriotische Züge: Doppelmayr versuchte sogar, die Entdeckung Amerikas für den Nürnberger Martin Behaim zu reklamieren (127-129). Als generelle Tendenz lässt sich eine Akzentverschiebung in der Amerikawahrnehmung vom Süden auf den Norden des Kontinents feststellen - nicht nur bei Protestanten wie dem Altdorfer Professor Wolfgang Jäger, sondern erstaunlicherweise auch bei Katholiken wie dem Salzburger Benediktiner Raphael Kleinsorg, bei dem die Vereinigten Staaten zur "Verkörperung des sich in der westlichen Welt kondensierenden menschlichen Forschritts" werden (163). Insgesamt erscheint Nordamerika jedoch schon Jahrzehnte vor der Unabhängigkeit der USA "tief in die Horizonte der europäischen Zeitgenossen integriert" (189).

In den Kapiteln über die Amerika-Historiographie bewegt sich Becker teilweise auf bekannterem Terrain, da jesuitische und pietistische Publikationsprojekte wie Joseph Stöckleins editorische Großtat Der Neue Welt-Bott und Samuel Urlspergers Sammlung von Berichten über die Ansiedlung der Salzburger Exulanten in Georgia in den letzten Jahren auch die Aufmerksamkeit anderer Forscher gefunden haben. Diesen geläufigen Werken stellt er mit den Veröffentlichungen des Ulmers Conrad Daniel Kleinknecht, der Nürnberger Reichshistoriographie, einer nationalökonomisch argumentierenden Augsburger Flugschrift und den teilweise ungedruckt gebliebenen Weltchroniken der bayerischen Hofgelehrten weithin unbekannte Americana gegenüber. Aber auch der Vergleich zwischen Werken katholischer und pietistischer Autoren zeitigt interessante Ergebnisse, da er intertextuelle Bezüge über die Konfessionsgrenzen hinweg sowie charakteristische Unterschiede zwischen katholischem Universalismus - Amerika als Raum, in dem sich Verluste gegenüber den Kirchen der Reformation in Europa kompensieren ließen - und protestantischen Projektionen eines Heilstransfers zwischen deutschen und amerikanischen frommen Gemeinschaften offen legt. Insgesamt bestätigt die Untersuchung der historiographischen Werke, dass sich der Schwerpunkt der Rezeption im Verlauf des 18. Jahrhunderts von Süd- nach Nordamerika verlagerte, wozu neben der deutschen Auswanderung in die britischen Kolonien auch der Aufstieg Großbritanniens zur führenden europäischen Kolonialmacht maßgeblich beitrug. Außerdem bedingte die Vielfalt der beteiligten Gelehrtenmilieus, "dass sich die süddeutsche Amerika-Wahrnehmung auf ein erstaunlich breit gefächertes Methodenfundament beziehen konnte", das von der Missionshistoriographie über die Migrationsgeschichte bis zur Reichs- und Staatengeschichte reichte (329). In seinem Fazit (331-344) hebt Rainald Becker die Bedeutung des Missionsaspekts und kirchlicher Netzwerke für die süddeutsche Amerika-Wahrnehmung sowie deren Prägung durch die territorialen, konfessionellen und kommunikativen Spezifika der süddeutschen "Wissenslandschaft" hervor (333).

Der vorliegenden Studie kommt das Verdienst zu, ein bislang wenig beachtetes Korpus geographischer und historiographischer Werke für die Geschichte der Amerika-Wahrnehmung erschlossen zu haben, dessen weitere Erforschung auch im Hinblick auf die Rezeption anderer Weltregionen aufschlussreich sein dürfte. Darüber hinaus gelingt es Rainald Becker, die fein differenzierten Ergebnisse seiner Fallstudien immer wieder konzise auf den Punkt zu bringen und sie mit seiner übergeordneten Argumentation zu verknüpfen. Neben den Studien Renate Piepers und Christine Johnsons zum 16. Jahrhundert sowie Horst Dippels und Volker Depkats zum späten 18. Jahrhundert wird man sein Buch künftig zu den Grundlagenwerken über den frühneuzeitlichen mitteleuropäischen Amerikadiskurs zählen können.

Mark Häberlein