Rezension über:

Marcus Andrew Hurttig: Die entfesselte Antike. Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2012, 148 S., ISBN 978-3-86335-151-9, EUR 24,00
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Rezension von:
Katharina Büttner-Kirschner
Detmold
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Katharina Büttner-Kirschner: Rezension von: Marcus Andrew Hurttig: Die entfesselte Antike. Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 7/8 [15.07.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/07/23053.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Marcus Andrew Hurttig: Die entfesselte Antike

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"Die entfesselte Antike. Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel" lautet der programmatische Titel vorliegender Publikation, die anlässlich der gleichnamigen Kölner Ausstellung im Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud 2012 erschien. Die Hamburger Kunsthalle hatte bereits im Jahr zuvor "Die entfesselte Antike. Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel in Hamburg" gezeigt und hierzu einen vergleichsweise schlanken Katalog, allerdings von besserer Druckqualität, veröffentlicht. Die Herausgeber beider Versionen sind Andreas Stolzenburg, Leiter des Kupferstichkabinetts der Hamburger Kunsthalle und sein Kölner Amtskollege Thomas Ketelsen im Wallraf-Richartz-Museums & Fondation Corboud. Konzeption und Organisation der Ausstellungen gehen maßgeblich auf den Kurator Marcus Andrew Hurttig zurück.

Im Zentrum vorliegender erweiterter Publikation stehen Rekonstruktion, Analyse und Kontextualisierung von Aby Warburgs Hamburger Vortrag und Grafikausstellung zum Thema "Albrecht Dürer und die Antike". 1905 referierte Warburg anlässlich der 48. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner im Konzerthaus Hamburg. Der Vortrag wurde 1906 in Kurzform veröffentlicht, Sonder-Abdruck und Bildertafeln sind im Dokumententeil integriert (82ff.). Das hingegen ausführlichere und ungemein facettenreichere Vortragsmanuskript wartet im Archiv des Londoner Warburg Institute noch auf seine vollständige Veröffentlichung. Diesem Forschungsdesiderat widmet sich nun Claudia Wedepohl (49); die Warburg-Forschung darf gespannt darauf sein. Marcus Andrew Hurttig liefert als Katalogautor mit seinem erhellenden Beitrag "Aby Warburgs Vortrag 'Dürer und die italienische Antike'" sowie mit Einleitung und Kommentar zum Dokumententeil bzw. relevanten Schriftwechsel den entscheidenden Bezugsrahmen für den Ausstellungsanlass und die Publikation. Einzelne Stationen von der Planung bis zur Durchführung des Vortragsprogramms lassen sich so quellengestützt nachvollziehen.

Was Aby Warburgs Dürer-Vortrag in der Retrospektive zum Schlüsseltext macht, ist der erstmalige Gebrauch des für sein antiklassizistisches Konzept des Nachlebens antiker leidenschaftlicher Ausdrucksformen signifikanten Terminus der Pathosformel. Er wendet diesen bei der Interpretation von Dürers Zeichnung "Der Tod des Orpheus" von 1494 an (Hamburger Kunsthalle). Mit typologischen Grafikblättern der italienischen Renaissance beabsichtigt Warburg, tradierte formale und psychologisch wirksame Kennzeichen einer dionysisch geprägten Gebärdensprache zu illustrieren. Der Dokumententeil beinhaltet ebenfalls die Gegenüberstellung von Abbild und Transkription bedeutsamer Warburgscher Diagrammskizzen adäquater Bild- und Literaturquellen (94-101). Jenseits der zeittypischen patriotisch-nationalistischen Dürer-Rezeption betont Warburg die interkulturellen Aspekte eines künstlerischen Austauschs zwischen Norden und Süden (28). Die von Warburg ausgewählten "Pathosblätter" bilden den Ausgangspunkt für die in Hamburg und Köln gezeigten Ausstellungen. Eine kommentierte Liste der 1905 exponierten Werke aus dem Besitz der Hamburger Kunsthalle befindet sich im Schlussteil des Katalogs (126ff.).

Mit Claudia Wedepohl, Archivarin des Warburg Institute in London, sitzt eine interdisziplinäre Wissenschaftlerin an der sprudelnden Quelle der Warburg-Forschung. Sie versteht es, in ihrem luziden und prägnant formulierten Beitrag zum Thema "Von der 'Pathosformel' zum 'Gebärdensprachenatlas' Dürers Tod des Orpheus und Warburgs Arbeit an einer ausdruckstheoretisch begründeten Kulturgeschichte" fundiert Warburgs wissenschaftshistorisches Profil zu schärfen. Die Autorin analysiert und veranschaulicht Warburgs Verknüpfung einer Ansatz-Trias aus den Bereichen der Psychologie, Anthropologie und Typologie (35). Deutlich wird beim Anstich dieses Methodenreservoirs der Einfluss von archäologischen Typenreihungen und Elementen der sprachwissenschaftlichen Morphologie zur "Charakterisierung des Ein- und Ausdruckspektrums der menschlichen Psyche" (37). Kritisch hinterfragt Wedepohl Warburgs unklare kategoriale Differenzierung zwischen dem Formzitat eines materiellen antiken Vorbilds und dem Nachempfinden eines immateriellen antiken Urbilds (44). Der Leserschaft eröffnet sich hier eine Zugangserweiterung zum Warburgschen Gedankengebäude, ohne dessen polare Komplexität von Systematik und 'Wildheit' zu neutralisieren.

Unstrittig ist Hamburgs Bedeutung für Warburg und seine persönliche, intellektuell-wissenschaftliche und institutionelle Entwicklung - vice versa. Wie sehr um 1900 Warburgs Verbindungen zum damaligen Hamburger Kunsthallendirektor Alfred Lichtwark durch den Aufbau eines Spannungsfelds beeinflusst waren, umreißt die entsprechende Korrespondenz (104ff.): Warburg positioniert sich hier zwischen der Unabhängigkeit eines Privatgelehrten und der drohenden Abhängigkeit eines Direktorialassistenten. Der Briefbestand der Hamburger Kunsthalle wirft außerdem ein Licht auf Warburgs kulturelle Ambitionen als Förderer der Künste und der Kunstvermittlung.

Dass die Ausblendung des Städtenamens im Kölner Ausstellungstitel möglicherweise als 'Leerstelle' für Warburgs Köln-Bezug fungiert, verblüfft zunächst. Als echte Herausforderung erweist sich die Auswertung - oder Aufwertung - kärglicher Spuren Aby Warburgs in der Domstadt. Diesem peripheren Konnex ist jedoch mit Subtilität, der Entdeckung von Warburgs Studiennotizbuch zur rheinischen Malerei des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit und mit Warburgs Interesse am Festwesen - oder besser am Feiern - des Kölner Karnevals zumindest stellenweise beizukommen (56ff.). Waren es doch die Studienjahre im benachbarten Bonn, die zentral auf Warburgs frühe Gelehrtenvita wirkten. In der Forschungsbibliothek des dortigen Kunsthistorischen Instituts suchte man allerdings über längere Zeit vergeblich nach Publikationen aus dem Warburg-Kreis. Die Anfänge dieser persistierenden Ausblendungen fallen ab 1902 in die Amtszeit von Paul Clemen. Die Ursache für jene ignorante Ankaufspolitik sieht Ulrich Rehm in seinem Aufsatz "Spuren und Ausblendungen. Aby Warburg, sein Studienort Bonn und seine Berührungspunkte mit der Kunst in Köln" in dem Dissonanzverhältnis der beiden so unterschiedlichen und doch durch mancherlei Parallelität charakterisierten Gelehrtenpersönlichkeiten (61ff.).

Warburgs Lebensdaten und ein kompaktes Literaturverzeichnis sorgen für eine übersichtliche Abrundung vorliegender Publikation. Was die Anfänge von Genese und Geltung des wegweisenden Pathosformel-Begriffs mit Ausblick auf den unvollendeten Mnemosyne-Bilderatlas betrifft, gelingt es unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstands, neue Akzente zu setzen und aussagekräftige Quellen zu erschließen. Eine insgesamt anschauliche und exemplarische Gedankenexkursion durch Aby Warburgs kulturwissenschaftlich und psychohistorisch geprägtes extravagantes Ansatzlabyrinth.

Katharina Büttner-Kirschner