Ina Conzen (Hg.): Mythos Atelier. Von Spitzweg bis Picasso, von Giacometti bis Nauman. Katalogbuch zur Ausstellung in der Staatsgalerie in Stuttgart vom 27.10.2012 bis 10.2.2013, München: Hirmer 2012, 279 S., ISBN 978-3-7774-5871-7 , EUR 45,00
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Wer im vergangenen Winter die große Landesausstellung "Mythos Atelier" durch den Nebeneingang im Stuttgarter Stirling-Bau betrat, war geradewegs mit Matthew Barneys Video "Drawing Restraint 6" (1989/2004) und folglich sofort mit zentralen Debatten um das zeitgenössische Atelier konfrontiert. Der amerikanische Medien- und Performancekünstler exerziert darin die Bedingungen des Schaffensprozesses, indem er mithilfe eines Trampolins im Sprung eine Bleistift-Zeichnung an der Zimmerdecke anzubringen versucht. Abgesehen von einer kritisch-ironischen Hinterfragung des Ateliers als mythischem Schaffensort finden sich in Barneys postmoderner Form des Action Painting elementare Anspielungen auf den künstlerischen sowie rezeptiven Umgang, die das Atelier und seine Darstellung seit mehr als zwei Jahrhunderten auszeichnen. Der Topos vom mühseligen kreativen Akt, voller innerer und äußerer Widerstände, wird ebenso thematisiert wie die vermeintliche Originalität der künstlerischen Handschrift, die Barney hier in Form eines ungelenken Strichmännchens befragt. Zusammen mit den Videos "The Painter" (1995) von Paul McCarthy und "Der Märchenprinz" (2007) von Jonathan Meese gelang der Kuratorin Ina Conzen damit ein gelungener (Seiten-)Einstieg in ihre monumentale, medienübergreifende Schau zum Thema. In den rund 200 ausgestellten Werken sowie im begleitenden Katalog sollte der "selbstreflexive [...], programmatische [...] Charakter des Atelierbildes" (13) untersucht werden. Schon allein, dass hier erstmals ein Überblick über den seit Beginn der Romantik signifikant sich verändernden Umgang mit dieser Heterotopie gewagt wurde und zahlreiche bedeutende Werke seit langem wieder oder überhaupt das erste Mal gemeinsam zu sehen waren, machte die Ausstellung zu einem Gewinn und ihren Besuch zu einem visuellen und geistig anregenden Genuss.
Um die Fülle des Materials zu bewältigen, waren die Exponate in Gruppen unter entsprechende Leitgedanken gefasst. Der zeitliche Fokus lag mit mehr als der Hälfte an Werken auf der Klassischen Moderne. Themen wie "Innere Landschaften", "Das Atelier als mysteriöser Ort" oder "Antibürgerliches Bekenntnis" stellten in einer weitgehend etablierten Einteilung wichtige Vertreterinnen und Vertreter der École de Paris, des Surrealismus und des Expressionismus vor. "Atelier und Alltag" sowie der große Saal "Reflexionen über das Atelier des Künstlers" führten die Entwicklungen ab den 1970er-Jahren zusammen. Wer sich nicht auf die überraschenden Nebenwege einlassen wollte, die der Zutritt über den Neubau der Staatsgalerie eröffnete, konnte der chronologischen Ordnung der Räume ausgehend vom Haupteingang folgen. Dies ermöglichte einen Vergleich zeitgleich stattfindender Auseinandersetzungen mit dem Phänomen 'Atelier', die auch der Katalog aufgreift. Seine dreizehn Beiträge sind an der Struktur der Ausstellung orientiert. Mit ihm liegt nun eine Abhandlung vor, die sich neben den vielen Abbildungen durch eine gute Zusammenfassung der bisherigen Forschungspositionen aus den seit rund 15 Jahren florierenden 'studio studies' auszeichnet. [1] Uwe Fleckner führt in die große Diversität der Atelierdarstellungen im 19. Jahrhundert ein, die sich im gelungenen Ausstellungssaal mit dem Titel "Mönchsklause, Salon, Himmelszelt" widerspiegelte. Dort zeigten malerisch wie ikonografisch so unterschiedliche Positionen wie Georg Friedrich Kerstings "Caspar David Friedrich in seinem Atelier" (1811), Edouard Manets "Der Maler Monet in seinem Atelier" (1874) oder Rudolf von Alts "Hans Makarts Atelier in der Gusshausstraße in Wien" (1885), dass das Atelierbild als "unterschiedlich gestaltetes Raumporträt" fungiert und "stets Ausdruck künstlerischer Selbstwahrnehmung" (44) ist.
Fleckner verweist hier auf einen zentralen Gedanken, der in der gesamten Schau immer wieder zutage trat: Das Atelierbild bietet seit dem 19. Jahrhundert einen Einblick in das künstlerische Schaffen im doppelten Sinne, was es wiederum von früheren Erscheinungen des Bildtypus unterscheidet. Neben der Funktion, das eigene Kunstverständnis zu visualisieren und zu reflektieren, findet nun der reale Schaffensort auf unterschiedlichste Weise Eingang in die bildlichen Darstellungen. Die starke Identifikation der Künstlerinnen und Künstler mit ihrem unmittelbaren Lebens- und Arbeitsumfeld führt im Laufe des 20. Jahrhunderts mehr und mehr zu einer Einverleibung des Ateliers. Dieses wird dadurch selbst zum Kunstwerk erklärt - wie unter anderem bei Kurt Schwitters' "Merzbau", in der Ausstellung in Form von Fotografien aus dem Jahr 1933 nachvollziehbar. In diese Entwicklungslinie können auch die "Wohnateliers" der Brücke-Künstler gestellt werden. So kombinierte die Kuratorin beispielsweise Ernst Ludwig Kirchners "Bergatelier" (1937) mit Skulpturen sowie textilen und kunsthandwerklichen Versatzstücken aus seinen verschiedenen Arbeitsorten in Dresden, Berlin und Davos. Dadurch wurde deutlich, dass der Künstler, wie Hanna Strzoda in dem dazugehörigen Katalogtext ausführt, "seine Räume dreidimensional raumgreifend und ganzheitlich" (111) gestaltete und den eigenen ästhetischen Prinzipien unterwarf. Bei allen Unterschieden zu den expressionistischen Werken sind Ausläufer jener Tradition noch in Dieter Roths "Bar o" (1979/98) und Daniel Spoerris "Rekonstruktion von Chambre No. 13, Hôtel Carcassonne, Paris, 1959-1965" (Assemblage 1998) zu erkennen - zwei Arbeiten, die ebenfalls in der Staatsgalerie zu sehen waren. Beide Künstler werteten ihren Alltag als künstlerische Praxis auf und verlegten konsequenterweise ihr Atelier in den Ausstellungsraum.
Wie Julia Behrends in ihrem Text zur Rekonstruktion und Konservierung von Künstlerateliers anschaulich macht, ist aller künstlerischen Interventionen zum Trotz die Faszination des Publikums für das vermeintlich authentische Atelier ungebrochen. Auch in Stuttgart konnten sich die Besucherinnen und Besucher in einem originalgetreuen und begehbaren Nachbau des Pariser Ateliers von Piet Mondrian von dessen winziger Größe überzeugen. Auf eine andere Weise erlebbar gemacht wurde der ehemalige Schaffensort Giacomettis in der Rue Hippolyte Maindron. In der Zusammenführung von originalen Wandfragmenten, kanonischen Atelierfotografien und künstlerischen Arbeiten Giacomettis entstand ein umfassendes Panorama seines Refugiums. Dieses in einem eigenen Saal inszenierte Ensemble machte zudem deutlich, aus welch unterschiedlichen Parametern sich die Wahrnehmung seines Ateliers bis heute zusammensetzt. Leider geht Véronique Wiesinger in ihrem Katalogbeitrag der nach wie vor ungenügend aufgearbeiteten Rezeptionsgeschichte nicht nach.
Auch an anderen Stellen weist die Publikation Lücken auf. So wäre es kenntnisreich gewesen, präziser zwischen dem Raum als solchem und seiner Darstellung beziehungsweise Dokumentation im Bild zu unterscheiden. Auch hätten diachron orientierte Fragestellungen die herkömmlichen Einteilungen nach Schulen oder nach den verwendeten Medien aufbrechen können. Dennoch gibt der Katalog eine umfassende Vorstellung von zwei Jahrhunderten Ateliergeschichte, die mit Cy Twomblys subtilen Atelier-Fotografien (2002/2005/2009) und dem Malerei und Fotografie miteinander verschränkenden Gemälde "Raum 758 aus der Serie 'Floß' (Atelier-Interieur)" (2011) von Ben Willikens auch erfrischende Entdeckungen bereit hält. Hier erschließt sich noch weitgehend unbekanntes Material für die 'studio studies', bei dem zukünftige Forschungen ansetzen sollten.
Anmerkung:
[1] Vgl. jüngst: Michael Diers / Monika Wagner (Hgg.): Topos Atelier. Werkstatt und Wissensform, Berlin 2010; Guido Reuter / Martin Schieder (Hgg.): Inside/Outside. Das Atelier in der zeitgenössischen Kunst, Petersberg 2012.
Ulrike Blumenthal