Wilfried Scharnagl: Bayern kann es auch allein. Plädoyer für den eigenen Staat, Köln: Quadriga Verlag 2012, 191 S., ISBN 978-3-86995-048-8, EUR 16,99
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Vor dem Hintergrund der seit Jahren anhaltenden Krise in Europa haben Vorschläge zu ihrer Überwindung Hochkonjunktur. Auch Wilfried Scharnagl, einst enger Vertrauter von Franz Josef Strauß und von 1977 bis 2001 Chefredakteur des CSU-Parteiblatts Bayernkurier, fühlt sich berufen, einen Beitrag zur Lösung der Probleme zu leisten. Am Herzen liegt Scharnagl dabei aber weniger das bedrohte Projekt der europäischen Einigung als der Freistaat Bayern. Seine jüngste Veröffentlichung Bayern kann es auch allein. Plädoyer für den eigenen Staat ist ein glühendes Bekenntnis zum Freistaat und zugleich eine Abrechnung mit Brüssel und Berlin. Scharnagls Forderung ist unmissverständlich: Bayern soll sich von der Bundesrepublik Deutschland lösen und ein eigenständiger Staat werden.
Gleich das erste Kapitel hat es in sich: Auf zehn Seiten fasst Scharnagl hier den Inhalt seines Buches zusammen. Ausgehend von einem Freistaat, der sich in einer ausgezeichneten wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Lage befindet, erkennt Scharnagl in der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union eine zweifache Bedrohung für die "Existenz und Substanz" (16) Bayerns. Sowohl Berlin als auch Brüssel wirft Scharnagl vor, gegen das Prinzip der Subsidiarität zu verstoßen und sich originär bayerische Kompetenzen anzumaßen. Neben Einschnitten in die politische Freiheit beklagt Scharnagl die finanzielle Belastung des Freistaats durch seine Doppelmitgliedschaft in einer "Transferunion - in einer deutschen und in einer europäischen" (11). Es erscheint daher wie die logische Konsequenz, wenn Scharnagl abschließend, wenn auch noch etwas verhalten, die Eigenstaatlichkeit Bayerns fordert.
Bevor sich der Autor wieder dem Bayern unserer Tage zuwendet, widmet er sich ausführlich der Geschichte des Freistaats seit 1871. Besonders intensiv setzt sich Scharnagl mit dem Eintritt des Königreichs Bayerns in das neu gegründete Deutsche Reich auseinander. Der Januar 1871 markiert für ihn "in einschneidender Weise den beginnenden Absturz auf einer schiefen historischen Ebene" (173). Mit der Bildung des deutschen Nationalstaats sei der Weg in die Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkriegs vorgezeichnet gewesen, so die feste Überzeugung Wilfried Scharnagls. Und durch seine Zustimmung zu den Verträgen von Versailles trage auch Bayern einen Teil der Schuld an dieser Entwicklung. Erst die Abkehr vom zentralstaatlichen Gedanken zugunsten der Verwirklichung eines deutschen Bundesstaates habe Deutschland und Bayern nach der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft wieder auf den rechten Weg geführt. Als Triebfeder dieser Entwicklung hebt Scharnagl die Bayerische Verfassung hervor; schon im Dezember 1946 habe sie sich auf das künftige Föderalismusprinzip festgelegt und dem zentralistischen Einheitsstaat eine deutliche Absage erteilt.
Warum der gelernte Historiker Scharnagl dem geschichtlichen Rückblick so viel Raum gibt, wird klar, wenn er wieder zu der aktuellen Lage des Freistaats zurückkehrt: Auf der einen Seite verliert er sich regelrecht in pathetischen Schwärmereien und Lobpreisungen über seine bayerische Heimat und die vielen Erfolge, die die Menschen in Bayern errungen hätten. Auf der anderen Seite sieht er all das Erreichte in größter Gefahr: Er beklagt eine von Berlin geförderte "schleichende Annäherung des Bundesstaates an den Einheitsstaat" (130) und die damit verbundene Einschränkung der politischen Freiheit der Länder. Ähnliche "krakenhafte Aktivitäten" (166) gingen zudem von Brüssel aus. Mit dem Verlust originär bayerischer Kompetenzen verbunden sei die finanzielle Ausbeutung Bayerns durch die Bundesrepublik und die Europäische Union, so Scharnagl. Länderfinanzausgleich und Eurorettungsschirme seien die beiden Instrumente, mit deren Hilfe Bayern als "Mitglied in einer zweifachen Enteignungsunion" (183) seiner finanziellen Substanz beraubt werde. Auch wenn er es nicht explizit schreibt, so ist die Botschaft Scharnagls doch offenkundig: Bayern befindet sich erneut an einer Wasserscheide - so wie damals, im Januar 1871. Wieder gewinnt der zentralstaatliche Zugriff an Kraft. Wieder droht das Abgleiten in die Katastrophe.
Für Wilfried Scharnagl ist es daher "Zeit für das große bayerische Aufbegehren" (173). In einem flammenden Appell, der wie der Rest des Buches von Polemik durchtränkt ist, fordert er Bayern auf, den "politischen Kampf um seinen Staat und um die Interessen seiner Bürgerinnen und Bürger aufzunehmen" (179). Was genau sich der Leser unter einem solchen "politischen Kampf" vorzustellen habe, das freilich lässt Scharnagl ebenso offen wie die grundsätzliche Frage nach der politischen Beschaffenheit eines eigenständigen bayerischen Staates.
Bayern, ein eigenständiger Staat, losgelöst von der Bundesrepublik Deutschland; vielleicht, vielleicht auch nicht der 29. Mitgliedstaat der Europäischen Union! Diese durch und durch absurde Vorstellung wirft zwangsläufig die Frage auf, ob Scharnagl mit seinem Buch ein tatsächlich ernst gemeintes Anliegen vertritt oder ob er nicht schlichtweg provozieren will. In jedem Fall bietet das Buch kaum einen Mehrwert. Gleichwohl ist es eine unterhaltsame Lektüre; und möglicherweise lässt sich ja doch der ein oder andere Gedanke daraus beim nächsten Wirtshausbesuch in die Runde werfen.
Julian Goerisch