David R. Gibson: Talk at the Brink. Deliberation and Decision during the Cuban Missile Crisis, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2012, XV + 218 S., ISBN 978-0-691-15131-1, GBP 24,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Enno Eimers: Preußen und die USA 1850 bis 1867. Transatlantische Wechselwirkungen, Berlin: Duncker & Humblot 2004
Norbert Finzsch: Konsolidierung und Dissens. Nordamerika von 1800 bis 1865, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2005
Cedric Bierganns: Geistige Nachrüstung. Ronald Reagan und die Deutschlandpolitik der U.S. Information Agency 1981-1987, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021
Die Kuba-Krise ist die wohl am intensivsten untersuchte Konfrontation des Kalten Krieges und zieht noch immer das Interesse von Historikern und Vertretern benachbarter Disziplinen auf sich. Verantwortlich für diese Aufmerksamkeit sind die Unmittelbarkeit der Bedrohung, die Person John F. Kennedy, der sich dem sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow als ebenbürtig erwies, und die vermeintlich besonnene Art der amerikanischen Konfliktlösung. Nachdem amerikanische Geheimdienste Mitte Oktober 1962 entdeckt hatten, dass die UdSSR atomare Mittelstreckenraketen auf Kuba stationierte, berief Kennedy eine Beraterkommission (ExComm) ein, die ihn bei der Suche nach einer Antwort auf die Bedrohung unterstützen sollte. Die Beratungen dieser Kommission sind auf Tonband aufgezeichnet worden. Die zunächst geheimen Protokolle liegen seit gut zehn Jahren der Öffentlichkeit vor.[1] Der Verfasser hat diese ExComm-Beratungen noch einmal nach den Prinzipien der "Konversationsanalyse" (Conversation Analysis) untersucht. Diese von amerikanischen Soziologen entwickelte Methode hat das Ziel, verbale Aspekte der Kommunikation mit nicht-verbalen wie Motorik und Gestik zu verbinden.
Gibson wendet dieses zunächst für "normale Gespräche" ("naturally occurring conversation") erarbeitete Instrumentarium zur Analyse für den Sonderfall einer Kommissionssitzung unter Leitung des amerikanischen Präsidenten an. Dass dies überhaupt möglich ist, setzt der Verfasser voraus. Er berichtet hingegen ausführlich, wie komplex die Aufarbeitung eines Tonbandmitschnitts ist, um ihn für eine Konversationsanalyse verwenden zu können. In einer Kommissionssitzung sprechen nicht selten zwei oder mehrere Personen gleichzeitig. Die meisten Abschriften von Tonbandprotokollen eliminieren das resultierende Stimmengewirr mit dem Ziel einer besseren Lesbarkeit und Verständlichkeit des Textes. Die Konversationsanalyse legt hingegen großen Wert darauf zu erfahren, wer wen unterbricht oder laut spricht.
Das Ziel der Untersuchung ist es, den Meinungsbildungsprozess innerhalb des ExComm besser zu verstehen. Als die Kommission am 16. Oktober 1962 zum ersten Mal zusammentrat, befürwortete eine Mehrheit der Mitglieder unmittelbare militärische Maßnahmen, um die sowjetischen Raketen auf Kuba zu zerstören. Diese Position wurde im Verlauf der mehr als zwanzigstündigen Beratungen zu Gunsten der Verhängung einer Quarantäne über Kuba abgeschwächt. Kennedy kündigte die amerikanische Reaktion am 22. Oktober abends in einer vom Fernsehen übertragenen Rede an. Der entscheidende Meinungsbildungsprozess fort von einer Militäraktion hin zur Quarantäne muss mithin zwischen dem 16. und 22. Oktober stattgefunden haben. Gibson untersucht diesen Zeitraum in seinem vierten Kapitel "The Response" und kommt zu der Überzeugung, dass der Meinungswandel von Verteidigungsminister Robert McNamara am 18. Oktober entscheidend gewesen sei. Seit diesem Tag sei es keinem ExComm-Mitglied mehr gelungen, die militärische Option eines Angriffs auf Kuba überzeugend zu vertreten. Die Darlegungen des Verfassers sind nachvollziehbar. Ob es dazu jedoch der Konversationsanalyse bedurfte, muss in Frage gestellt werden. Der Autor hätte zu diesem Ergebnis auch durch eine Analyse der bereits publizierten Abschriften der Beratungen kommen können.
Die Untersuchung wirft darüber hinaus einige methodische Fragen auf. So konstatiert Gibson an einer Stelle (59), dass Präsident Kennedy während der Beratungen sehr viele Fragen gestellt habe. Das kann mit seinem Amtsverständnis zusammen hängen. Der Präsident bemühte sich um Informationen, um dann eine gut begründete Entscheidung treffen zu können. Kennedys Verhalten kann jedoch auch einen ganz anderen Grund gehabt haben. Die meisten Mitglieder des ExComm wussten nicht, dass die Unterredungen aufgezeichnet wurden. Es ist zu erwarten, dass Kennedy, der die Aufzeichnungen angeordnet hatte, sein Gesprächsverhalten entsprechend ausgerichtet hat. Seine Gesprächsstrategie war es offensichtlich, die ExComm-Mitglieder zu expliziten Aussagen zu bewegen. Es erscheint fraglich, ob unter diesen Umständen eine Konversationsanalyse Sinn macht.
Es gibt zwei weitere Einwände gegen das Vorgehen des Verfassers. So weist er im Vorwort darauf hin, dass die Krise am 16. Oktober 1962 begonnen habe. Die UdSSR erscheint dementsprechend als unberechenbarer Aggressor, der plötzlich ohne Provokation und Vorwarnung Atomraketen aufgestellt hat. Kennedy sah die Krise mit Sicherheit jedoch in einem anderen Zusammenhang. Er war sich sofort bewusst, dass seine Entscheidung vom April des Vorjahres, eine Invasion Kubas zu autorisieren, in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Stationierung sowjetischer Raketen dort stand. Damit relativierte sich die Interpretation der sowjetischen Ziele und implizit auch der amerikanischen Handlungsoptionen. Wenn die Sowjets aus defensiven Gründen Kuba aufrüsteten, war ein amerikanischer Erstschlag schwer zu rechtfertigen. Last but not least ignoriert eine bloße Gesprächsanalyse der ExComm-Sitzungen die übrigen Bemühungen zur Beilegung der Krise. Es gab Gespräche zwischen Justizminister Robert Kennedy und dem sowjetischen Botschafter in den USA, Anatoli Dobrynin, die ebenso wichtig waren für die Beilegung der Krise wie die ExComm-Beratungen. Beruhte McNamaras Meinungsänderung auf Resultaten der Unterredung mit Dobrynin? Nachdem Chruschtschow öffentlich einen Abzug der sowjetischen Raketen im Gegenzug für einen Abbau amerikanischer Raketen in der Türkei angeregt hatte, war ein Angriff auf Kuba keine ernsthaft zu betreibende Option mehr.
Gibsons Buch ist ein interessanter Beitrag zur Analyse der Kubakrise, der jedoch im Kontext mit anderen Studien gelesen werden muss. Der Autor hat die Beratungen der ExComm für die Zwecke der Konversationsanalyse anscheinend nicht deshalb ausgesucht hat, weil neue Erkenntnisse zu erwarten waren, sondern weil die entsprechenden Tonbandprotokolle vorliegen. Es wäre faszinierend, entsprechende Studien über das Treffen Kennedys und Chruschtschows in Wien im Juni 1961 [2] oder Ronald Reagans und Michail Gorbatschows in Genf und Reykjavik 1985 und 1986 [3] zu lesen - zumal dazu bereits wichtige Quellen vorliegen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Ernest R. May / Timothy J. Naftali / Philipp D. Zelikow (eds.): The Presidential Recordings: John F. Kennedy. The Great Crises, 3 vol., New York / London 2001.
[2] Vgl. dazu Stefan Karner / Barbara Stelzl-Marx / Natalja Tomilina u.a. (Hgg.): Der Wiener Gipfel 1961. Kennedy - Chruschtschow (= Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz - Wien - Klagenfurt; Sonderband 12), Innsbruck 2011. Vgl. die Rezension in sehepunkte: http://www.sehepunkte.de/2011/11/20047.html
[3] Vgl. dazu die im Internet zugängliche Quellen, für den Genfer Gipfel: http://www.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB172/index.htm; zum Reykjavik-Treffen: http://www.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB203/index.htm; ferner http://www.thereaganfiles.com/the-summits.html.
Georg Schild