Michael W. Herren: The Cosmography of Aethicus Ister. Edition, Translation, and Commentary (= Publications of the Journal of Medieval Latin; 8), Turnhout: Brepols 2011, CXIX + 360 S., ISBN 978-2-503-53577-7, EUR 75,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Peter Herde: Bonifaz VIII. (1294-1303). Erster Halbband: Benedikt Caetani, Stuttgart: Anton Hiersemann 2015
Sebastian Scholz: Die Merowinger, Stuttgart: W. Kohlhammer 2015
Michael McCormick: Charlemagne's Survey of the Holy Land. Wealth, Personnel, and Buildings of a Mediterranean Church between Antiquity and the Middle Ages, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2011
Die Cosmographia des Aethicus Ister ist ein Werk, das der Forschung zahlreiche Rätsel aufgibt. Die wahrscheinlich aus dem frühen 8. Jahrhundert stammende Beschreibung der Welt und ihrer Entstehung, die streckenweise eher einem Reisebericht mit mythischen Seitenblicken gleicht, soll dem Text zufolge von einem heidnischen Philosophen skythischer Herkunft verfasst worden sein, der aus seiner Heimat Istrien möglicherweise gemeinsam mit seiner Familie auf eine Insel verbracht worden war. Zugleich gibt die Darstellung vor, nicht die gesamte Abhandlung des Aethicus, sondern nur eine durch einen Priester namens Hieronymus hergestellte und teils ausführlich kommentierte Übersetzung von Auszügen des ursprünglich auf Griechisch verfassten Textes zu repräsentieren. Wer immer das Werk tatsächlich niederschrieb, wollte dem Leser suggerieren, dahinter stünde die Autorität des Kirchenvaters Hieronymus: ihm oblag es, die Ausführungen des sofista Aethicus kritisch zu kommentieren und zu würdigen, um im Spiel mit der doppelten Autorschaft das Publikum durch den Text zu leiten und diesen zugleich aufzuwerten. Doch nicht nur die zweifache Verpuppung der Verfasserfigur bereitet bei der Entschlüsselung des bemerkenswert elaborierten Werkes Probleme: die handschriftliche Überlieferung ist variantenreich, das Latein durch den deutlich erkennbaren Anteil des Romanischen ebenso wie durch den vorhandenen Wechsel von der Prosa zur Reimform und die Freude des Verfassers an Neologismen im Sinn oft dunkel. Auch die Identifizierung des unbekannten, aber zweifellos gelehrten Autors und die Datierung des Textes sind umstritten. Jede Beschäftigung mit dem Text, insbesondere aber die Bemühungen um eine Edition, stellen daher eine große Herausforderung dar.
Michael Herren hat sich der schwierigen Aufgabe unterzogen und sich in der hier zu besprechenden Publikation dem Werk als Ganzem angenähert. Der Band vereint eine Edition des Textes mit einem ausführlichen Kommentar und einer englischen Übersetzung, liefert zugleich aber auch in der Einleitung einen gelungenen Überblick über die mit dem Text und seinem Autor verbundenen Probleme. Basierend auf seinen zahlreichen Einzelstudien vergangener Jahre bezieht Herren darin Stellung gegenüber den in der Forschung kontrovers behandelten Punkten. So wendet er sich nach einer Einführung und einem knappen inhaltlichen Überblick über das Werk (xi-xxxii) in einem eigenen Abschnitt dessen Quellen zu (xxxiii-lv), ehe er auf die Datierung des Textes eingeht (lv-lxi). Dabei zeigt sich Herren skeptisch hinsichtlich der Griechischkenntnisse des Autors. Die nachweisbare Übernahme von narrativen Elementen und Episoden aus griechischer Überlieferung erklärt er mit heute verlorenen lateinischen Übertragungen der betreffenden Texte oder mit "oral teaching" (xxxiii; vgl. auch xlvi, xlix und li). Der handschriftliche Befund und die mögliche Verwendung der ursprünglichen Fassung des Liber Historiae Francorum (xxxixf.) lassen Herren zu dem Schluss kommen, dass der Text bald nach 727 entstanden sein muss (lxi). Aus Überlegungen zum Entstehungsmilieu der Kosmographie (lxi-lxxiii) und der Analyse der Darstellungsabsicht des Autors (lxxiii-lxviii) rekonstruiert er ferner eine Vita des Verfassers und die Genese des Textes, der demzufolge zwischen Malmesbury, dem Frankenreich und Bobbio Gestalt gewann (lxxviif.). Es erscheint allerdings fraglich, ob das skizzierte Itinerar des Aethicus nicht - in Abhängigkeit von den erhaltenen Quellen - allzu stark an die bekannten Zentren des Wissens geknüpft wird, während vom Herausgeber andernorts als Argument benutzte Überlieferungsverluste unberücksichtigt bleiben: Aethicus könnte auch an anderen Orten als den vermuteten an die für seine Darstellung notwendigen Bücher und Informationen gelangt sein. Es ist bemerkenswert, dass Überlegungen zur Überlieferung der ältesten Handschriften und Fragmente des Textes aus dem 8. Jahrhundert anders als in der früheren Forschung, die in Virgil von Salzburg den Verfasser des Werkes zu erkennen glaubte, hier kaum eine Rolle zu spielen scheinen.
Eine intensive Auseinandersetzung mit der Latinität des Autors (lxxviii-c), die Schilderung der Editionsprinzipien (c-cix) sowie ein Abkürzungsverzeichnis oft zitierter Arbeiten, von Siglen und editorischen Symbolen (cxv-cxix) beschließen die Einleitung und leiten zur Edition und Übersetzung des Textes über. In seiner Edition stützt sich Herren auf die 1993 erschienene Ausgabe von Otto Prinz. [1] Wie er in der Einleitung erläutert, übernahm er die von Prinz herangezogenen Handschriften und die von ihm durchgeführte Einordnung im stemma codicum weitgehend (vgl. cviii), griff jedoch anders als dieser stärker in den Text selbst ein. Ablesbar ist dies zum einen an der häufigeren Interpunktion, die für ein besseres Verständnis des Textes sorgt, zum anderen aber auch an der Veränderung oder Ergänzung von Wörtern, auf die Prinz in seiner Ausgabe verzichtet hatte (vgl. auch cx-cxii mit einer Liste von Modifikationen gegenüber Prinz). Insbesondere letzteres mag für Diskussionsstoff sorgen und vielleicht nicht in allen Fällen restlos überzeugen: doch hinterlassen der auf verschiedene Bereiche innerhalb des Buches verteilte Kommentar (56-103; 114-124; 218-321) und die Einleitung beim Leser stets den Eindruck, dass der Editor seine Entscheidungen mit Umsicht getroffen hat. Nachteilig nicht nur für die Beurteilung der vorgenommenen Emendationen wirkt sich indes die starke Reduzierung des textkritischen Apparats aus - wer sich über die Varianten in den unterschiedlichen Handschriften informieren will, wird nach wie vor zur Ausgabe von Prinz greifen müssen: Herren bietet dem Leser zumeist eben nur seine Entscheidung an (vgl. cix). Etwas ungewohnt mutet der Abdruck des Apparats unmittelbar nach den einzelnen, anders als bei Prinz in Paragraphen eingeteilten Abschnitten an. Die Übersetzung überzeugt angesichts der sprachlichen Schwierigkeiten, die der Text und sein Autor für den Leser bereithalten: Herren hält eine gelungene Balance zwischen der anzustrebenden Nähe zum Text und einer freien Übertragung der bisweilen sperrigen Formulierungen des Aethicus Ister.
Eine umfassende Bibliographie am Schluss des Buches (323-337) informiert über die einschlägige Literatur; ein Index der Handschriften, ein Wortverzeichnis sowie ein Register, das Orts- und Personennamen umfasst, erschließen den Band (339-357). Am Ende angefügte Addenda und Corrigenda zeugen einmal mehr von der Akribie und der intensiven Auseinandersetzung Herrens mit dem Stoff (359f.). Mit seiner Edition der Kosmographie und ihrer Übersetzung hat der Herausgeber eine bemerkenswerte Grundlage für die weitere intensive Beschäftigung mit dem Text geschaffen. Es darf als sicher gelten, dass der Band vor allem durch die Übersetzung zahlreiche interessierte Leser und Benutzer jenseits des kleinen Kreises von Spezialisten, die sich bislang mit ihm beschäftigten, finden wird. Und vielleicht werden so künftig weitere Rätsel entschlüsselt, die das Werk und seinen Autor umgeben.
Anmerkung:
[1] Otto Prinz (Hg.): Die Kosmographie des Aethicus (= Monumenta Germaniae Historica. Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters; Bd. 14), München 1993.
Andreas Fischer