Falk Illing: Energiepolitik in Deutschland. Die energiepolitischen Maßnahmen der Bundesregierung 1949 - 2013, Baden-Baden: NOMOS 2012, 282 S., ISBN 978-3-8329-7585-2, EUR 49,00
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Obwohl die Energiepolitik ein zentrales Politikfeld darstellt, fehlte bisher eine kompakte Überblicksdarstellung darüber, was die verschiedenen Bundesregierungen in diesem ökonomisch und gesellschaftlich so wichtigen Gebiet seit 1949 unternommen haben. Der Politikwissenschaftler Falk Illing hat sich dieser Lücke angenommen. Sein Fokus liegt dabei darauf, die Maßnahmen anhand von Regierungserklärungen und Gesetzen darzustellen und in die Wirtschaftspolitik der jeweiligen Bundesregierung einzuordnen. Der Titel des besprochenen Bandes Energiepolitik in Deutschland suggeriert jedoch mehr. Ist die Bundesregierung überhaupt der entscheidende energiepolitische Akteur in Deutschland? Der Einfluss der Bundesregierungen erscheint dem Betrachter in einigen Feldern groß (beispielsweise der Kernenergie), bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass es sich eher um ein Geflecht von verschiedenen Interessen und Einflüssen handelt, in dem die Bundesregierungen nur bedingt als bestimmender Akteur agieren.
Aus diesem Grunde tut Illing gut daran, die Rahmenbedingungen, u. a. die Ziele und Akteure der bundesdeutschen Energiepolitik (27-33), vorzustellen und zu erläutern. Im Anschluss daran wendet sich der Autor den jeweils herrschenden wirtschaftspolitischen Paradigmen der Bundesregierungen zu (34-63). Den Hauptteil bildet die chronologische Abhandlung der Energiepolitik der Bundesregierungen (64-257). Innerhalb der Kapitel wird jeweils zwischen Maßnahmen für den Kohle-, Mineralöl- und Kernenergiesektor unterschieden. Außerdem gibt es Unterkapitel zu jeweiligen Besonderheiten, beispielsweise bei der Regierung von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger zur Gründung der Ruhr-Kohle-AG (RAG) oder zum Atomausstieg I unter Gerhard Schröder und zum Atomausstieg II unter Angela Merkel.
Zu Recht weist der Autor darauf hin, dass sein Thema in den maßgeblichen volkswirtschaftlichen und politikwissenschaftlichen Standardwerken bisher eher stiefmütterlich behandelt wurde. Zu ergänzen ist, dass dies auch für die zeithistorische Forschung gilt, sowohl in Überblickswerken zur Politik- [1] als auch zur Wirtschaftsgeschichte [2]. Jedoch existieren zu einzelnen Feldern der Energiepolitik, etwa der Kernenergiepolitik [3] oder der Struktur der Energiewirtschaft [4] und den großen Energieversorgungsunternehmen [5], von zeit- und wirtschaftshistorischer sowie politikwissenschaftlicher Seite wichtige Bausteine zu einer Geschichte der Energiepolitik, die vom Autor jedoch nicht zur Kenntnis genommen wurden.
Daraus resultiert, dass beispielsweise die Aussagen zur Kernenergiepolitik korrekturbedürftig sind, sowohl was die länger zurückliegenden als auch die jüngeren Bundesregierungen betrifft. Dem Autor unterlaufen Fehler in der Tatsachenwiedergabe beispielsweise zur nuklearen Entsorgung. So behauptet Illing, dass bereits in den 1960er Jahren neben dem aufgelassenen Salzbergwerk Asse der Salzstock Gorleben als "potentieller Kandidat" für die Endlagerung radioaktiver Abfälle gegolten habe - Gorleben wurde jedoch erst 1977 von der niedersächsischen Landesregierung als Standort für ein "Nukleares Entsorgungszentrum" bestimmt [6]. Das Bundesamt für Strahlenschutz tritt bei Illing bereits in den 1970er Jahren in Erscheinung, obwohl es erst Jahre nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 errichtet wurde [7].
Auch die zusammenfassende Darstellung der kernenergiepolitischen Paradigmen kann nicht überzeugen. Die Zerrissenheit der Regierungspartei SPD in der Frage der Kernenergienutzung sowie der innerparteiliche Formelkompromiss "Kohle und Kernenergie" als Leitlinie Ende der 1970er Jahre werden kaum dargestellt. Illing erwähnt nicht, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Helmut Kohl 1994 den Vorrang der Wiederaufarbeitung vor der direkten Endlagerung radioaktiver Abfälle aufgegeben hat. Dadurch wurde bereits lange vor dem ersten Atomausstieg die Schließung des Kernbrennstoffkreislaufs, ein zentrales kerntechnisches Leitbild der bundesdeutschen Kernenergiepolitik, ad acta gelegt.
Illings Darstellung hat aber auch Stärken. Zu nennen sind die klare Struktur, die systematische Herangehensweise und die kompetente Zusammenfassung aktueller Diskussionen. Sie und die chronologische Vorgehensweise erleichtern es dem Leser, gezielt auf einzelne Themenfelder zuzugreifen. Zugleich erschwert diese Vorgehensweise es dem Autor jedoch, übergreifende energiepolitische Strategien darzustellen, die jenseits der kurzfristigen politischen Erfordernisse über parteipolitische Grenzen hinweg die Energiepolitik über Jahrzehnte bestimmten und bestimmen.
Durch die Fixierung auf die Bundesregierung kommen die anderen energiepolitischen Akteure, die eingangs erwähnt werden und deren Bedeutung für die Energiewende betont wird (32), zu kurz. Es wird zu wenig deutlich, dass die Energiepolitik der Bundesregierungen nur durch die Berücksichtigung von wirtschaftlichen Gegebenheiten und als Zusammenspiel der verschiedenen Akteure (Energiewirtschaft, Energieforschung und -technologie, Bundesländer, Parteien, Verbände etc.) zu verstehen ist. In der Kernenergiepolitik spielt seit den 1970er Jahren beispielsweise der Antagonismus der jeweiligen Bundesregierung mit anders gefärbten Landesregierungen eine wichtige Rolle bei der Umsetzung oder Blockade unliebsamer Projekte (unter anderem Gorleben). Der Handlungsspielraum der einzelnen Bundesregierung ist in diesem Wechselspiel sehr viel kleiner, als Illings Darstellung suggeriert.
Dennoch ist Illings Studie dem an energiepolitischen Zusammenhängen interessierten Leser als Einstieg zur aktuellen energiepolitischen Diskussion zu empfehlen. Literatur zum energiepolitischen Umfeld sollte zur Ergänzung jedoch herangezogen werden, um Verständnis für die bundesdeutsche Energiepolitik zu entwickeln. Nicht erst seit der "Energiewende" ist diesem zentralen Politikfeld in der politologischen und zeithistorischen Forschung ein größerer Stellenwert beizumessen.
Anmerkungen:
[1] Beispielsweise Bernd Stöver: Die Bundesrepublik Deutschland (Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt 2002.
[2] Beispielsweise Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004.
[3] Beispielsweise Hans Michaelis / Carsten Salander (Hgg.): Handbuch Kernenergie. Kompendium der Energiewirtschaft und Energiepolitik, Frankfurt am Main 1995; Otto Keck: Information, Macht und gesellschaftliche Rationalität. Das Dilemma rationalen kommunikativen Handelns, dargestellt am Beispiel eines internationalen Vergleichs der Kernenergiepolitik, Baden-Baden 1993.
[4] Bernhard Stier: Staat und Strom, Die politische Steuerung des Elektrizitätssystems in Deutschland 1890-1950, Ubstadt-Weiher 1999.
[5] Beispielsweise Dieter Schweer / Wolf Thieme (Hgg.): RWE - Der gläserne Riese. Ein Konzern wird transparent, 1898 bis 1998, Wiesbaden 1998.
[6] Bundestagsdrucksache 17/13700 vom 23. Mai 2013, 93.
[7] Bundesgesetzblatt 1989, Teil I, Nr. 47 vom 12. Oktober 1989, 1830 (Gesetz vom 9. Oktober 1989).
Anselm Tiggemann