Rudolf Schlögl: Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1750-1850, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2013, 540 S., ISBN 978-3-10-073588-1, EUR 28,00
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Eine beeindruckende Gesamtdarstellung des europäischen Christentums legt der Konstanzer Historiker Rudolf Schlögl vor. Seine These formuliert er gleich in der Einleitung: Das Christentum hat sich in der Umbruchszeit zwischen der Mitte des 18. und des 19. Jahrhunderts zu einer Religion der Gesellschaft entwickelt. Die individuelle Religiosität und die Institutionen der Kirchen vollziehen die Transformation der Gesellschaften mit, in denen sie existieren. In vier Schritten erläutert Schlögl diese These in seiner gewissermaßen als "Anti-Wehler" zu lesenden religiösen Gesellschaftsgeschichte.
Das erste Kapitel (23-101) beschreibt die Endphase des Ancien Régime, die Einbindung der Kirchen in die Monarchien mit ihren Hierarchien und Selbstreproduktionen. Geistliche und weltliche Herrschaft existierten nebeneinander. Kirchen und weltliche Sozialordnungen standen in einem austarierten Verhältnis zueinander. Die Rekrutierung der jeweiligen Eliten geschah über Adel und Bildungsbürgertum, Pfründen- und Patronatswesen. Die Auflösung der Jesuiten war das sichtbarste Anzeichen eines Widerstands gegen die Macht der Kirchen. Staatliche Reformversuche griffen tief in das Leben, die Strukturen und die Frömmigkeit der Kirchen ein.
Die Jahrzehnte der Revolution fasst Schlögl unter das Stichwort "Bürgergesellschaft" (103-226). Die Französische Revolution und die nachfolgenden Säkularisationen nahmen den Kirchen ihre bisherigen Herrschaftsrechte und Besitztümer. In den neu entstehenden Bürgergesellschaften wurde konfessionelle Pluralität zum Programm und religiöses Bekenntnis zur Privatsache. "Religion wurde als Medium sozialer Inklusion neutralisiert." (20) Kirche wurde zum Verein. Der Staat übernahm gleichzeitig Elemente christlicher Sozialformen, um die Nation mit religiöser Symbolik zu überhöhen und eine politische Religion zu formen.
Inmitten dieser gesellschaftlichen Veränderungen transformierte sich die innere Gestalt des Christentums (227-337). An vier Feldern zeigt Schlögl diesen Prozess auf. Die Organisation der Kirchen forderte eine neue persönlichere Form von Mitgliedschaft heraus. Religion wurde zu einer sozialen Bewegung in der Spannung zwischen auf Innerlichkeit ausgerichteten Zirkeln und nach außen gerichteten Missionsinitiativen, immer aber in der Form "begeisterter Netzwerke". In der Frömmigkeit kam es zur Entkirchlichung auf der einen Seite, auf der anderen Seite zu neuen Formen familialer Ritualisierung, medialer Präsenz des Christentums und neuer Erfahrung von Transzendenz in den psychischen Prozessen des Individuums. Die Folge war eine "Feminisierung" des Christentums, von Schlögl etwa am Beispiel der Frauenkongregationen, einer veränderten Ikonografie (Engel wurden weiblich) und einer besonders Frauen einengenden Sexualmoral illustriert.
Im letzten Kapitel (339-435) analysiert Schlögl die Semantik von Religion als Kultur anhand von Texten, die unterschiedliche Interpretationen von Religion im Verlauf der Neuzeit beleuchten. Er spannt einen breiten Bogen vom Deismus über ein zivilgesellschaftliches Bild von Religion und die Theodizeefrage bis zur Diskussion um eine "Ur-Religion", aus der sich die verschiedenen Gottesbekenntnisse entwickelt hätten, und die Herausbildung von Religionswissenschaft. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass Offenbarung zunehmend in Frage gestellt und von einem funktionalen Religionsverständnis abgelöst wurde, für das Religion das Resultat kultureller Leistung des Menschen zur Sinnerfüllung seines Lebens war. Schlögls Fazit: "Die besondere Herausforderung für Religion dabei war: der reflektierten Identität wieder Authentizität und Notwendigkeit zu geben, die nicht allein in ihr selbst lagen." (432)
Schlögls Schlussreflexionen (437-456) ziehen noch einmal Querlinien durch die stärker chronologisch angelegten vorausgegangenen Kapitel. Der Autor bekennt sich zum Säkularisierungsbegriff als einer "Beobachtungskategorie" (443). Für ihn ist klar: "Säkularisierung wie die Religion der Gesellschaft gibt es. Man kann sie beobachten." (456) Im Verlauf der Neuzeit habe sich im Zuge einer gesellschaftlichen Differenzierung auch eine neue institutionelle Form von Religion herausgebildet. Dadurch wurden neue Formen der Inklusion von Religion in Gesellschaft ermöglicht, was sich an der Emanzipation von Minderheitenkonfessionen oder den Auseinandersetzungen um Mischehen und Zivilehe zeigte. Wenn Religion jedoch nicht mehr gesellschaftlich vorgeschrieben war, war damit eine Individualisierung des religiösen Bekenntnisses gegeben. Transzendenzerfahrungen waren zunächst persönlich und mussten erst über Medien in eine Öffentlichkeit kommuniziert werden.
Schlögls Monografie basiert auf dem kommunikations- und medientheoretischen Ansatz der Systemtheorie. Dadurch gelingt es ihm, den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Großentwicklungen und theologischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Konjunkturen sichtbar zu machen - in der Sprache heutiger Theologie: die "Zeichen der Zeit" interpretieren. Bei aller durchgehaltenen theoretischen Fundierung ist ihm dabei ein Wurf gelungen, der die Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhunderts auch erzählerisch nachvollziehen lässt. Schlögl hält konsequent durch, nicht nur auf eine christliche Konfession und auch nicht nur auf ein europäisches Land zu blicken. Er lädt ein, die europäische Geschichte, zumindest die Mittel- und Westeuropas, in vergleichender transnationaler Perspektive zu lesen. Besonders hervorzuheben ist, dass Schlögl die soziale Ebene immer mit der individuellen Ebene verzahnt. Die Gesellschaft transformiert die Religion; die Frömmigkeit wird davon beeinflusst und das Individuum gestaltet diese Prozesse mit. Diesen Zusammenhang herausgestellt zu haben, ist ein wichtiges Verdienst der Schlöglschen Monografie.
Joachim Schmiedl