Michael Prinz: Der Sozialstaat hinter dem Haus. Wirtschaftliche Zukunftserwartungen, Selbstversorgung und regionale Vorbilder: Westfalen und Südwestdeutschland 1920-1960 (= Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 69), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, 454 S., ISBN 978-3-506-77332-6, EUR 44,90
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Es ist eine Art Lebenswerk, das Michael Prinz mit diesem Buch vorlegt; die Thematik, die es behandelt, beschäftigt ihn schon seit über 30 Jahren. Mit dem "Sozialstaat hinter dem Haus" bezeichnet der Münsteraner Historiker eine eigentümliche Symbiose von Industriebeschäftigung und Massenkonsum als den sozialhistorischen Merkmalen moderner Gesellschaften einerseits und einer zumindest partiellen Verankerung vieler Menschen in der ländlichen Lebenswelt andererseits, die nicht nur realhistorisch eine bislang unterbewertete Rolle spielte, sondern sich auch erstaunlich lange in den Projekten von Politikern und Landesplanern spiegelte. Nach ihren Vorstellungen sollte der Besitz einer kleinen Landparzelle - nach südwestdeutschem Vorbild - die Industriearbeiterschaft in schweren Zeiten vor der Verelendung schützen. Mit anderen Worten ging es um die prophylaktische Abfederung der sozialen Folgen künftiger Wirtschaftskrisen.
Ausgehend von dem Befund, dass die "Sozialfigur des Arbeiterbauern [...] das raumplanerische Leitbild in der Zwischenkriegszeit" bestimmte, fragt Prinz nach den Ursachen, die dieses Ideal so langlebig machten, nach den soziostrukturellen Realitäten, die ihm zugrunde lagen, und nach dem "Zusammenhang zwischen der Verbreitung des Leitbildes und den Annahmen der beteiligten Ökonomen und Planer über zukünftige wirtschaftliche Spielräume" (12).
Auf methodisch sehr anspruchsvolle Weise untersucht Prinz vor allem drei Aspekte: die Praxis der Selbstversorgung, den einschlägigen Diskurs in Politik, Verwaltung und Wissenschaft sowie die sich wandelnden wirtschaftlichen Zukunftsvorstellungen, in denen das Ideal des "Sozialstaats hinter dem Haus" wechselnden Konjunkturen unterworfen war. Darüber hinaus will Prinz die "Gleichzeitigkeit des Ungleichen" (24) erklären und "Aufschlüsse für die Periodisierung der Konsumgesellschaft seit dem Ersten Weltkrieg" gewinnen (26).
Die Ergebnisse der chronologisch gegliederten Studie, die von den Anfängen der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis in die frühe Bundesrepublik reicht, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Funktionen der Eigenwirtschaft oszillierten zwischen dem "Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Geltungserwerb" aus der Sicht der Betroffenen und "paternalistische[r] Sozialpolitik" aus der Perspektive der Planer, wobei sich die "Grenzen zwischen Markt- und Selbstversorgung [...] in der Praxis als fließend" erwiesen (382). Die Träger der Idee vom "Sozialstaat hinter dem Haus" fanden sich hauptsächlich im konservativen Lager, das in der Selbstversorgung ein Heilmittel gegen die Gefahren der Moderne erblickte. Auch die Sozialdemokratie stand der Idee der Eigenwirtschaft aufgeschlossen gegenüber, allerdings aus ganz anderen Motiven.
Die Wurzeln des Leitbildes der Raumordnung, das Prinz auf die Formel "Dezentralisierung von Wohnen und Produzieren" (386) bringt und für das die Begriffe "Stadtlandschaft" und "Württembergisierung" standen, reichen zwar bis ins 19. Jahrhundert zurück. Doch erst die großen Katastrophen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts - der Erste Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise - wirkten als Katalysatoren des Ideals der Selbstversorgung.
Unumstritten war diese Form der Sozialpolitik freilich nie. Vereinfacht gesagt standen sich über einen langen Zeitraum hinweg zwei Lager gegenüber: Die Optimisten, die mit wirtschaftlichem Überfluss rechneten und ganz auf den Massenkonsum setzten, und die Pessimisten, die eine neuerliche Krise und eine damit einhergehende Verelendung befürchteten. Zu den Letztgenannten, für die die Eigenwirtschaft ein unverzichtbares Mittel der Sozialpolitik blieb, zählten in der NS-Zeit die meisten Angehörigen der konservativen Opposition gegen Hitler, in der Nachkriegszeit übernahmen die Ordoliberalen diese Position. Der "Sozialstaat hinter dem Haus" wurde erst in den frühen 1960er Jahren obsolet, als sich im Zuge des "Wirtschaftswunders" die Konsumgesellschaft in Westdeutschland endgültig durchgesetzt hatte.
Prinz selbst bezeichnet es als "das vielleicht wichtigste Ergebnis" seiner Studie, "die Jahre nach 1914 ein Stück weit fremder erscheinen zu lassen, als sie in der Forschung zumeist wahrgenommen werden." (12) In der Tat waren Land und Landwirtschaft bis in die 1960er Jahre hinein für einen beachtlichen Teil der deutschen Gesellschaft als Lebenswelt oder doch zumindest als Rückfalloption für Krisenzeiten von kaum zu überschätzender Bedeutung - und sie waren es eben auch für Politiker und Planer, wie Michael Prinz überzeugend herausarbeitet. Er demonstriert damit eindrucksvoll die Leistungsfähigkeit eines interdisziplinär orientierten, um kulturgeschichtliche Perspektiven erweiterten sozialgeschichtlichen Ansatzes, und zwar nicht zuletzt für die Geschichte der Sozialpolitik. Kleine sachliche Fehler, beispielsweise "Thomas Eichmüller" (27), fallen dagegen nicht ins Gewicht.
Darüber hinaus eröffnet die Studie vielversprechende komparative Perspektiven: Ein Teil der Befunde ist nämlich nicht nur für (West-)Deutschland relevant, sondern für weite Teile Mitteleuropas. In den böhmischen Ländern beispielsweise war das Industriedorf noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg die dominante Siedlungsform, und die sogenannten Eisenbauern stellten einen großen Teil der Industriearbeiterschaft. Fest verankert im eigenen Milieu, machte es ihre Eigenlogik sowohl der NS-Besatzungsmacht als auch der kommunistischen Einparteiendiktatur schwer, ihren Lenkungs- und Herrschaftsanspruch in den Betrieben durchzusetzen.
Vor diesem Hintergrund wäre wohl erst noch zu klären, ob der "Sozialstaat hinter dem Haus" überall in Europa sang- und klanglos von der Bildfläche verschwand. Wie sah es etwa in Südeuropa aus, wo die wirtschaftliche Wachstumsdynamik nach dem Zweiten Weltkrieg viel schwächer ausgeprägt war als in der Bundesrepublik? Blieb die Selbstversorgung dort nicht viel länger ein Eckpfeiler der Sozialpolitik? Und mit Blick auf die aktuelle Krisenlage in Griechenland, Spanien und anderswo muss man fragen: ist sie es nicht immer noch? Eine moderne europäische Sozialgeschichte - und notabene auch Sozialstaatsgeschichte - wird diesen Fragen nicht zuletzt auf Grund ihrer angedeuteten Aktualität nachgehen müssen. Die Befunde von Michael Prinz geben ihr dabei die Richtung vor.
Jaromír Balcar