Tom Müller / Matthias Vollet (Hgg.): Die Modernitäten des Nikolaus von Kues. Debatten und Rezeptionen (= Mainzer Historische Kulturwissenschaften; Bd. 12), Bielefeld: transcript 2013, 518 S., ISBN 978-3-8376-2167-9, EUR 44,80
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Thomas E. Morrissey: Conciliarism and Church Law in the Fifteenth Century. Studies on Franciscus Zabarella and the Council of Constance, Aldershot: Ashgate 2014
Ulli Roth (Hg.): Johannes von Segovia. Opera minora. Unter Mitarbeit von Juliane Roloff, Wiesbaden: Harrassowitz 2023
Joseph Canning: Conciliarism, Humanism and Law. Justifications of Authority and Power, c. 1400-c. 1520, Cambridge: Cambridge University Press 2021
Der renommierte Cusanusforscher Hans Gerhard Senger hält in einem kürzlich erschienenen magistralen Aufsatz zur "Modernität" des Nikolaus von Kues der Cusanus-Gesellschaft zugute, "dass sie bisher der Verlockung widerstanden hat, Aktualität und Modernität zum Thema einer ihrer Tagungen und Veröffentlichungen zu machen". [1] Für die "Jungcusaner" scheint dies nicht mehr zu gelten, nachdem nun die Beiträge ihrer vierten internationalen Tagung im Druck vorliegen. Bei genauerem Hinsehen geht es den Herausgebern und Beiträgern dieses inhaltlich weitgefächerten Bandes keineswegs um anachronistische Rückdatierungen gegenwärtiger theologischer, philosophischer und politiktheoretischer Ansichten und Wünsche, sondern um eine systematische und kritische, entstehungs- wie rezeptionsgeschichtliche Analyse und Kontextualisierung von Modernismen, welche die Cusanus-Forschung schon seit Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung im 19. Jahrhundert und darüber hinaus durchziehen. Dies geschieht umfassend auf drei Ebenen: 1) Originalität und Traditionsbewusstsein des Cusanus selbst; 2) nachfolgende Rezeptionsstränge, die Cusanus immer wieder als "Vorläufer" späterer Konzepte erscheinen lassen, hiermit eng verbunden die Interpretation des Cusanus als erstem modernen Denker und Portalfigur der neuzeitlichen Philosophie, und 3) die Inanspruchnahme des Cusanus als Autoritätsreservoir für gegenwärtige Debatten und künftige Entwicklungen.
Der erste Bereich, die Neuheit und Originalität des Cusanus, seine Rolle als Portalfigur frühneuzeitlichen Denkens, wird von Isabelle Mandrella (23-42) treffend umrissen. Spezifisch anhand des zentralen Bezugsankers der cusanischen Philosophie, der Rezeption des Pseudo-Dionysius, zeigt Viki Ranff (43-56), wie Rückbezug auf Traditionelles und Bruch mit gängigen Traditionssträngen ineinander verschränkt sind. Die Abkehr von der aristotelischen Tradition im Possest-Gedanken des späten Cusanus führt Hua Li (143-159) aus, während Frédéric Vengeon (175-186) die Implementierung des Nikolaus von Kues in der Tradition der rheinischen Mystik und in den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit betont. Silvio Agostas Suche nach inhaltlichen Berührungspunkten zwischen Nikolaus von Kues und Leon Battista Alberti (187-213) brachte ein negatives Ergebnis. In diesen Bereich gehören auch die sprachlogischen Studien von Ueli Zahnd (107-142) und Cecilia Rusconi (161-174), die sich mit semiologischen und begriffstheoretischen Methoden des Cusanus befassen.
Die größere Zahl der Beiträge betrifft die vielfältigen direkten und indirekten Rezeptionen des cusanischen Œuvres vom späten Mittelalter bis in die Gegenwart. Wolfgang Christian Schneider (215-250) und Elena Filippi (251-266) machen für Jan van Eyck und Albrecht Dürer Einflüsse der philosophisch-theologischen Spekulation auf die künstlerische Darstellung aus, die bis in Details der Bildgestaltung hineinreichen. Den Musterfall einer extensiven und expliziten Cusanus-Rezeption in der frühmodernen Philosophie, Giordano Bruno, beleuchtet Pietro Daniel Omodeo anhand des Atom-Konzepts, welches Bruno in philosophische Traditionen einpasste und für die weitere Rezeption instrumentalisierbar machte (289-308). Weit weniger naheliegend ist die Inanspruchnahme des Cusanus für die Alchemie-Reform des Paracelsus, die Witalij Morosow aufgrund von methodischen Analogien plausibel macht (309-322). Die Vorprägung moderner Sichtweisen bei Nikolaus von Kues untersucht Christian Ströbele (323-344) anhand der Theologie der göttlichen Attribute bei Friedrich Schleiermacher. Mit einem fulminanten Essay über typische Mechanismen der Cusanus-Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert liefert Detlef Thiel (345-368) anregende und nützliche Orientierungspunkte, die in Einzelstudien zur Cusanus-Rezeption bei Hermann Cohen (Kirsten Zeyer, 369-386), Ortega y Gasset (Harald Schwaetzer, 387-399) und Martin Heidegger (Susan Gottlöber, 437-454) weiter entfaltet werden. Die Inanspruchnahme der Werke des Nikolaus von Kues für die "Radical Orthodoxy" analysiert Dominik Weiss (425-435). Ein methodisch faszinierendes Lehrstück liefert Arne Moritz (467-483), indem er die provokante Frage nach der Verantwortung des Autors für anachronistische Interpretation affirmativ beantwortet. Die Verwendung der Concordantia catholica für demokratische Herrschaftstheorien sei nur durch eine zeittypische additive Argumentationsstruktur möglich geworden, welche eine baukastenartige Isolierung einzelner Fragmente ermöglichte.
Wie die Cusanus-Rezeption der Wissenschaft zu immer neuen Anregungen verhelfen kann, zeigt eine dritte Gruppe von Beiträgen. Stefan Schick (267-287) plädiert dafür, im Dialog der Religionen den Vernunfts- und Wahrheitsanspruch nicht weiter auszuklammern, sondern, ähnlich wie Nikolaus von Kues, die verschiedenen religiösen Traditionen als Ausfaltungen einer gemeinsamen Offenbarung zu sehen. Auf dem Weg des Vergleichs mit Cusanus gelangen Felix Resch (401-423) und Ingo Bocken (455-466) zu neuen Interpretationsansätzen für die Theologie Karl Rahners bzw. die modernekritischen Ansichten Pavel Florenskys. Sogar den Dialog mit chinesischen Philosophen scheint Nikolaus von Kues zu ebnen, wie die Beiträge Heinrich Geigers (87-106) und David Bartoschs (56-86) zeigen. Ein schulmeisterliches Musterbeispiel für das ungeahnte Potential der Cusanus-Rezeption bringt August Herbst: Eine 2007 in Trier uraufgeführte Cusanus-Oper trug Nikolaus von Kues auch in die Klassenzimmer, Unterrichtsmaterial und Handreichungen für Lehrer inklusive.
Dem immens vielfältig gestreuten Band fehlt eine zusammenfassende Synthese und, besonders schmerzlich, ein Register, welches zumindest die zahlreichen erwähnten Personen und immer wieder zitierten Cusanusschriften auffindbar gemacht hätte. Die oft hervorragende Qualität der Einzelstudien zu vor allem theologischen und philosophiehistorischen Problemen rund um Cusanus bleibt davon freilich unberührt.
Anmerkung:
[1] Hans Gerhard Senger: Wie modern ist Cusanus? Zur Fragilität der Modernitätsthesen (Trierer Cusanus-Lecture; 17), Trier 2013.
Thomas Woelki