Heidi Helmhold: Affektpolitik und Raum. Zu einer Architektur des Textilen (= Kunstwissenschaftliche Bibliothek; 34), Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2012, 246 S., 95 s/w-Abb., ISBN 978-3-86560-677-8, EUR 18,00
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Textilien und textile Objekte sind tradierte Güter unserer materiellen Kultur. Als historische Artefakte werden sie in der abendländischen Kulturgeschichte als erkenntnisreiche und wertvolle Zeugnisse unserer Zivilisationsgeschichte be- und verhandelt. Dennoch hat sich insbesondere mit dem Fortschreiten der Industrialisierung hin zur rationalen Moderne bis heute eine wissenschaftliche Geringschätzung der textilen Kultur eingestellt, die Gegendarstellungen herausfordert. Mit ihrem Buch unternimmt Heidi Helmhold in sechs Kapiteln eine solche Revision des Textilen, indem sie überdies eine ebenso bislang eher marginalisierte Analysekategorie für ihre Studien wählt, nämlich den Affekt. Ihre Studie reiht sich damit in aktuelle Affekt- beziehungsweise Emotionsforschungen in den Geisteswissenschaften ein.
Heidi Helmhold geht davon aus, dass es uns ein Bedürfnis ist, Raum sinnlich zu erfahren und dass leibliche Erfahrung ein aktiver Vorgang von Raumproduktion ist. Sie beruft sich hierbei auf den Kunsthistoriker August Schmarsow, der Ende des 19. Jahrhunderts aktuelle physiologisch-psychologische Forschungsansätze in die Rezeption von Architektur eingebracht hat. Helmhold verknüpft in ihren instruktiven Studien Schmarsows leibliche Raumproduktion mit neueren soziologischen Untersuchungen zum Raum sowie mit aktuellen Erkenntnissen der Neurowissenschaften, dem Körperwissen. Auf diese raumtheoretischen und neurologischen Konzepte bezieht sie sich, wenn sie Textilien als "weiche Körpermedien" bezeichnet, die "biegeschlaff Muskelgefühle" hervorrufen und sie für die Architektur als "affektive Raumstrategien" in Erinnerung ruft (20): Denn "tacit knowledge" und "Körperwissen" waren vom rationalistischen Architekturdiskurs konzeptionell eliminiert worden.
Mit der Wahrnehmungsphänomenologie von Maurice Merleau-Ponty verweist Helmhold darauf, "dass nicht wir mit unseren Körpern im Raum sind, sondern dass Raum in unserer Leiblichkeit ein eigener Bewegungssinn ist, der uns Raum überhaupt erst erfahren lässt" (28). Die Autorin macht uns mit dieser methodischen Perspektive und thematischen Fokussierung in ihrem ersten Kapitel "Die Architektur des Textilen" vertraut. Hier wird ihr programmatischer Anspruch besonders deutlich, da sie den Begriff der "textilen Architektur" einführt. Sie versteht ihn als "ein räumlich wirksames" und "architekturanaloges Instrument" zur Inszenierung zumeist temporärer Architektur, die sie der "Herrschaftskultur einer autorbezogenen Architektur" gegenüberstellt, die einen "gebaute[n], zeitfeste[n] Raum bezeichnet" (18). Sie knüpft dabei an die Prämisse an, dass Raum eine nur vermeintlich neutrale Kategorie ist, wie Michel Foucault oder auch Henry Lefebvre herausgestellt haben.[1] Und sie rekurriert auf Architekturdiskurse, in denen auf die räumliche Ordnung sozialer Verhältnisse sowie auf den Raum als eine Konfiguration von Beziehungen, der sich über Handlung, Bewegung und Wahrnehmung herstellt [2], verwiesen wird.
In den thematischen Fallstudien ihres ersten Kapitels sucht die Autorin zahlreiche "textile Architekturen" auf: Sie analysiert textile Raumproduktionen in unterschiedlichen Medien und Epochen.
In dem zweiten Kapitel beschäftigt sie sich mit Polsterungen im privaten Wohnen: "Bettenformationen, Liegekissen, Stützkissen, Lotterbetten, Faulbetten, weichgefederte Sofas, Wolldecken oder intelligent gefüllte Kissen [...]" (37).
In dem folgenden Kapitel der "Liebesarchitekturen" wendet sie sich vor allem der Erörterung von Betten als "textilintensiven Orten" zu. Sie analysiert dieses Mobiliar sowohl in seinen zahlreichen historischen Gebrauchsweisen und seinen jeweiligen symbolischen Repräsentanzen als auch in seinen Raumsystemen, wie dem Schlafzimmer, dem chambre und dem boudoir oder auch in Installationen zeitgenössischer Künstlerinnen, wie bei Sophie Calle, Tracey Enim oder auch Colette.
Den bewussten Entzug und die Kontrolle textiler Körpererfahrungen vor allem in Räumen des Strafvollzugs und der Psychiatrie fokussiert sie in dem Kapitel "Strafende Räume". An- oder Abwesenheit von Textilien beziehungsweise Textilität als strafendes Instrument, als Mittel der Gewalt gegenüber Menschen, ist besonders wirksam, so die These, weil Textilien einen großen Einfluss "auf die Konstitutionsprozesse eines Selbst" aufgrund ihrer "haptische(n), olfaktorische[n] und sensuelle[n] Vertrautheiten" haben (98). Die sensorische Deprivation von Menschen zeige sich in Vollzugskonzepten durch eine Affektpolitik der räumlich strafenden Disziplinierung. Neben dem Roman de Sades "Die 120 Tage von Sodom" erörtert sie in diesem Sinne den Einsatz von Textilien im Gefangenenlager von Guantánamo und auch in Rauminstallationen von Gregor Schneider. Dass in dem Kapitel der "Strafenden Räume" auch der "Lernraum Universität" thematisiert wird, mag erstaunen, liegt aber dennoch nahe, denn "Lehren und Lernen sind räumlich in der Nähe von Strafen und Disziplinieren angesiedelt" (122).
In einem weiteren Kapitel erfahren wir darüber hinaus, dass Fußball "textilintensiv" ist: So ist nicht nur die Fankultur von Textilreichtum gekennzeichnet, sondern auch in dem Raumkörper des Fußballstadions übernehmen Textilien, wie Fahnen und Bänder, markante Funktionen.
Das letzte Kapitel handelt über "Erste und Letzte Räume". Helmhold führt uns von der ersten Raumstatt im Mutterleib über symbolische Schutzräume als textile "Raumprothesen" (z.B. bei Joseph Beuys oder bei Toyo Ito) zu einem letzten irdischen Raum der christlichen Kultur, dem Sarg. Sie verweist auf die große affektpolitische Rolle, die Textilien in Bildproduktionen von Bestattungszeremoniellen spielen. Eingehend analysiert sie Sargwäsche, Leichentuch und Totenkleidung im christlichen Totenkult als "textile Würdeformeln" sowie Textilien als Archive körperlicher (Lebens-)Spuren (204).
Sowohl alltägliche Objekte als auch künstlerische Artefakte der materiellen und der visuellen Kultur sind Untersuchungsgegenstände dieses Buches. Textilien werden als responsive architektonische Medien und kulturelle Techniken erörtert, die für Leib- und Körpererfahrungen sorgen. Visuelle Repräsentationen, Handlungspraxen beziehungsweise der Gebrauch dieser Textilien sind, das zeigt Helmholds Studie eindrucksvoll, räumlich situiert. Textilität als Sinneserfahrung ist aus dieser Perspektive eine kulturelle Technik, die zur Produktion von Räumen beiträgt.
Das Buch füllt mit seiner Revision der "textilen Architektur" eine Lücke in der kultur- und kunstwissenschaftlichen Forschung und ist darüber hinaus spannend zu lesen. Es besticht durch die Opulenz des vorgestellten Materials und durch die Erörterung der verschiedensten Artefakte unserer textilen Kultur und ihrer immens großen Teilhabe an affektiven Raumstrategien. Die Untersuchung verfolgt keine lineare Entwicklungsgeschichte, dennoch aber werden Raum-, Körper- und textile Diskurse zeitgeschichtlich kulturell verortet.
Hätte ich zwei Wünsche an die Autorin frei gehabt, dann hätte ich sie um eine stärkere Berücksichtigung des Genderaspektes und um ein abschließendes, die Studie resümierendes Kapitel gebeten.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Michel Foucault: Andere Räume (1967), in: Karlheinz Barck u.a. (Hgg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1998, 34-46 und Henri Lefebvre: The Production of Space, Oxford 2001.
[2] Vgl. z.B. Michel De Certeau: Kunst des Handels, Berlin 1988, v.a. "Praktiken im Raum", 179-240.
Christina Threuter