Sebastian Nickel: Männerchorgesang und bürgerliche Bewegung 1815-1848 in Mitteldeutschland (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe; Bd. 37), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, 392 S., ISBN 978-3-412-21067-0, EUR 49,90
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Die Geschichtswissenschaft in Deutschland hat Vereine vornehmlich als Sozialisationsagenturen betrachtet, die ihren Mitgliedern in der Beschäftigung mit trivialen Zwecken politisch handlungsleitende Vorstellungen vermittelt. Das gilt auch und gerade für den Männergesangverein, der von der Forschung oft als Hort national-konservativer, wenn nicht antidemokratischer Gesinnung charakterisiert wurde. Schon Max Weber spöttelte in seiner Rede auf dem Frankfurter Soziologentag 1910, dass "(e)in Mensch, der täglich gewohnt ist, gewaltige Empfinden aus der Brust durch seinen Kehlkopf herausströmen zu lassen, ohne irgendeine Beziehung zu seinem Handeln [...] sehr leicht ein 'guter Staatsbürger' wird". In der historischen Vereinsforschung haben Dieter Düding und Dietmar Klenke in ihren einschlägigen Arbeiten die deutschen Männergesangvereine als verbreitete Organisationsform des "gesellschaftlichen Nationalismus" und als Horte des "singenden deutschen Mannes" charakterisiert und damit das Bild des staatskonformen Männerchorgesangs verfestigt.
Sebastian Nickel übernimmt in seiner für den Druck überarbeiteten Dissertation die auf politische Kultur gerichtete Perspektive dieser älteren Forschung und untersucht das Chorvereinswesen zwischen Wiener Kongress und 1848er Revolution als "bürgerlich-liberales Lebensmodell und Übungsfeld" (11). Er fragt nach dem Ausmaß, in dem liberales Freiheitstreben das mitteldeutsche Gesangvereinswesen prägte und über den Verein hinausgehende politische Aktivitäten motivierte. Als Bewertungsmaßstab dient ihm ein Katalog frühliberaler Leitideen, der die Forderung nach persönlicher Freiheit und rechtlicher Gleichheit, nach Vereins- und Pressefreiheit sowie nach politischer Partizipation der Bürger umfasst. Manifestationen dieser Ideen sucht Nickel in Quellen zum Vereinsleben wie Festschriften, Satzungen, Vereinsprotokollen, Korrespondenz, Mitgliederverzeichnissen und Veranstaltungsprogrammen sowie gedruckten und ungedruckten Liederbüchern. Des Weiteren zieht er Nachlässe von Komponisten und Textdichtern wie Friedrich Schneider und Carl Friedrich Zöllner heran, die sich führend in der mitteldeutschen Sängerbewegung engagierten.
Im ersten Kapitel skizziert Nickel die Geschichte des Liberalismus und des Vereinswesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und verweist auf Verbindungen zwischen Sängerschaft und anderen "politischen Organisationsformen der bürgerlichen Bewegung", so die Überschrift des betreffenden Abschnittes. Dazu zählt Nickel Burschenschaften und liberale Presse, aber auch die religiösen Vereinigungen der Lichtfreunde und Deutschkatholiken. Diese bekamen nach ihrem Entstehen Anfang der 1840er schnell großen Zulauf und verzeichneten mit zusammen 150.000 Mitgliedern 1850 mehr Anhänger als die organisierten Sänger. Zahlreiche personelle Überschneidungen und Kooperationen zwischen religiöser Oppositionsbewegung und Chorvereinen erkennt Nickel als "mitteldeutsche Besonderheit" (321).
Auf einen knappen Abriss der Geschichte der Männerchorbewegung in den deutschen Staaten und in Mitteldeutschland folgt das Hauptkapitel des Buches, in dem Nickel den Männergesang als "Mittel oppositioneller Artikulation" (Kapitelüberschrift) untersucht. In einzelnen Abschnitten betrachtet er für Dessau, Leipzig, Thüringen, Magdeburg und Dresden einzelne Vereine und Bünde sowie ihre führenden Mitglieder, Repertoires und öffentlichen Sängerfeste. Dabei geht es ihm primär um den Nachweis liberaler Einflüsse in Lebensläufen, Liedern und Aktionen. Diese Einflüsse sieht er in den mitteldeutschen Regionen unterschiedlich stark ausgeprägt. Erkennt er im Vereinsleben der Städte Dresden und Leipzig "starke demokratische Tendenzen", die sich in öffentlichen Auftritten und dem singulären Akt einer Petition an den sächsischen Landtag äußerten, charakterisiert er die Vereine der anhaltinischen und sächsischen Provinz als "überwiegend konstitutionell ausgerichtet" (319).
Nickel trägt zahlreiche Belege für die Präsenz liberaler, wenn nicht demokratischer Ideen im mitteldeutschen Gesangvereinswesen zusammen. Er hebt die liberale Facette des Männerchorgesangs heraus, die in Studien, die die Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts zum Fluchtpunkt nehmen und die affirmative Seite des Gesangvereins betonen, leicht aus dem Blick gerät. Ist mit dieser Akzentverschiebung auch keine Revision der eingangs erwähnten Deutung intendiert, lädt sie doch zur Neubetrachtung des Gegenstands ein und stellt so vielleicht den größten Gewinn der vorliegenden Studie dar.
Zu nennen sind aber auch die Probleme des Buches, die aus der ausschließlichen Fokussierung auf den Aspekt der politischen Kultur resultieren. Zum einen beschreibt Nickel das Vereinswesen so, als hätten die Zeitgenossen scheinbar allein aus politischer Gesinnung, aus ihrem Freiheitsbedürfnis oder zum Ausdruck ihres bürgerlichen Selbstbewusstseins Gesangvereine gegründet bzw. sich ihnen angeschlossen. Andere mögliche Motive der Vereinsmitgliedschaft werden nicht in Betracht gezogen, selbst wenn sie beinahe auf der Hand liegen. So dürfte das starke Engagement von Komponisten, Dichtern, Musikverlegern und -schriftstellern (siehe insbesondere das Beispiel der Liedertafel in Leipzig (120-136), der zentralen Stadt des deutschen Musikverlagswesens) eben auch geschäftlich-professionelle Gründe gehabt haben. Ferner hätte man gerne einige Überlegungen darüber gelesen, warum sich neben Musikern und Angehörigen verwandter Berufe die Lehrer sehr prominent am Chorvereinswesen beteiligten, und wie sich liberales Vereinsengagement und Staatsdienst praktisch vereinbaren ließen. Auch hätte man sich ein wenig mehr Skepsis gegenüber dem bürgerlichen Selbstanspruch gewünscht, im Chorgesang Klassengrenzen zu überwinden, den die von Nickel untersuchten Vereine im Großen und Ganzen nicht einlösten. Solche Überlegungen hätten den Autor zum einen auf die vielfältigen Netzwerk-, Integrations- und Ausschlussfunktionen aufmerksam gemacht, die Vereine neben der politisch-kulturellen Vergemeinschaftung immer auch erfüllt haben. Und sie hätten ihn vermutlich auch zu Fragen der Klassenbildung und der Entwicklung des Stadtbürgertums geführt, die in der Frankfurter und Bielefelder Bürgertumsforschung diskutiert wurden. Zu dieser Forschung stellt die vorliegende Studie zur "bürgerlichen Bewegung in Mitteldeutschland" überraschenderweise keinen Bezug her.
Klaus Nathaus