Rezension über:

Christian Michel / Carl Magnusson (Hgg.): Penser l'art dans la seconde moitié du XVIIIe siècle: théorie, critique, philosophie, histoire (= Collection d'histoire de l'art de l'Académie de France à Rome), Paris: Somogy éditions d'art 2013, 760 S., ISBN 978-2-7572-0622-5, EUR 35,00
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Rezension von:
Marlen Schneider
Institut für Kunstgeschichte, Universität Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Sigrid Ruby
Empfohlene Zitierweise:
Marlen Schneider: Rezension von: Christian Michel / Carl Magnusson (Hgg.): Penser l'art dans la seconde moitié du XVIIIe siècle: théorie, critique, philosophie, histoire, Paris: Somogy éditions d'art 2013, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 11 [15.11.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/11/23698.html


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Christian Michel / Carl Magnusson (Hgg.): Penser l'art dans la seconde moitié du XVIIIe siècle: théorie, critique, philosophie, histoire

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Das 18. Jahrhundert gilt als eine Epoche des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umbruchs. Insbesondere die geistesgeschichtlichen Veränderungen stehen im Vordergrund jeglicher Auseinandersetzung mit dem siècle des lumières: Die philosophische Disziplin der Ästhetik bildete sich heraus, öffentliche Kunstausstellungen beförderten die Genese der Kunstkritik, und auch die Geburtsstunde der Kunstgeschichte wird im 18. Jahrhundert angesiedelt. Allesamt traten diese Diskursformen in Konkurrenz zu einem bereits etablierten Modell des Kunsturteils, der akademischen Theorie. Dadurch wurde nicht nur deren Deutungshoheit in Frage gestellt, sondern auch ein reger Austausch zwischen den unterschiedlichen Disziplinen und deren Akteuren bewirkt.

Diese vier Formen der Annäherung an bildende Kunst - Theorie, Kritik, Philosophie und Geschichte - stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes. Das umfangreiche Werk präsentiert auf über 700 Seiten die Ergebnisse einer dreiteiligen Tagung, die 2008 an der Université Lausanne, am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris und an der Académie de France in Rom veranstaltet wurde und jeweils einem von drei Spannungsfeldern gewidmet war: Theorie und Ästhetik, Theorie und Kritik, Theorie und Geschichte. Den Parallelen und Schnittpunkten zwischen den Diskursen Rechnung tragend, wurde die ursprüngliche Separation in der nun vorliegenden Publikation aufgebrochen. Diese Entscheidung der Herausgeber erscheint ebenso sinnvoll wie die Fokussierung des Untersuchungszeitraums auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Auch wenn die 37 Beiträge den wesentlichen Einfluss früherer Positionen deutlich machen, so zeigt die Überschau doch klare Momente der Verdichtung und eine zunehmende Brisanz der Diskurse ab der Jahrhundertmitte.

Bereits in der Einführung des Mitherausgebers Christian Michel wird auf die soziale und politische Dimension der damaligen Standpunkte aufmerksam gemacht. Statt der rein formalen Beschaffenheit eines Werkes interessierte nun auch verstärkt dessen Wirkung auf den Betrachter, das Urteilsvermögen des Laien sowie die historische Entwicklung der Kunst bis hin zur unmittelbaren Gegenwart.

Marc Ledbury eröffnet die Diskussion mit dem Aufruf, eingefahrene Deutungsstrukturen und Paradigmen im Hinblick auf die Diskurse des 18. Jahrhunderts zu hinterfragen. Provokativ verwirft er die lange etablierte und erst in den letzten Jahren bröckelnde Idee eines doktrinären akademischen Standpunktes, der häufig als Gegenmodell zu einer modernen und freidenkerischen Kunstkritik herhalten musste. Überzeugend plädiert er für eine Umkehrung der bisherigen Wahrnehmung, indem er die lebendige, den gegenseitigen Austausch suchende Gesprächsform der akademischen conférences mit den häufig dogmatisch auftretenden frühen Kunstkritiken vergleicht. Tatsächlich bestätigen die anschließenden Beobachtungen Martin Schieders zum ästhetischen Diskurs über das Porträt die Einschätzung Ledburys. Schieder gibt Einblick in die Heterogenität der Debatten über die Gattung, die wie kaum eine andere die verschiedenen Interessen von Kritikern, Künstlern, Publikum und Modellen miteinander konfrontierte und so mitunter harsche Kritiken heraufbeschwor, die gleichzeitig als Gesellschafts- und Moralkritik verstanden werden müssen.

Eine Schlüsselrolle schreibt Jacqueline Lichtenstein dem Abbé Du Bos zu, dessen bereits 1719 erschienene Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture für die Geschmacksdiskussion, die Geschichtsschreibung und die Legitimierungsstrategien der Kunstkritik während des gesamten Jahrhunderts grundlegend waren. Seine Überlegung, das Kunsturteil beruhe auf dem sinnlichen Erkenntnisvermögen des Subjekts und könne somit auch von Laien formuliert werden, war zudem eine wesentliche Voraussetzung für die Herausbildung der Figur des Amateurs, dem sich Charlotte Guichard widmet. Die zahlreichen Polemiken, die dessen Positionierung zwischen Akademie und Öffentlichkeit heraufbeschwor, zeugen von einer zunehmenden Konkurrenzsituation der unterschiedlichen Akteure: Künstler, Amateure und Kritiker beanspruchten jeder für sich das alleinige Recht auf die Beurteilung von Kunst. Besonders pointiert wird dieser "conflit territorial" (159) von Philippe Junod am Beispiel Étienne-Maurice Falconets anschaulich gemacht sowie von Pamela Warner, die zeigt, dass auch die Einschätzung von Kunstwerken vergangener Epochen in diesem Spannungsfeld angesiedelt war.

An die Untersuchung von wichtigen Figuren der Kunstkritik, wie Étienne La Font de Saint-Yenne, Louis Baillet de Saint-Julien und Denis Diderot, dessen Betonung des sentiment von Zeina Hakim hervorgehoben wird, schließen sich Studien zu den Diskursen jenseits der bildenden Künste an. Charles Batteux' 1746 erschienenes Traktat Les Beaux Arts réduits à un même principe zeugt bereits von einer gattungsübergreifenden Wahrnehmung der Schönen Künste. So zeigt Marie-Pauline Martin, dass auch im Bereich der Musik über Geschmack, das Schöne und über die Regeln des Kunsturteils verhandelt wurde.

Etwas irreführend sind zwei Abschnitte explizit im Hinblick auf die Transferprozesse zwischen den französischen, englischen und deutschen Theorien betitelt. Ist es doch eine Stärke des gesamten Bandes, und nicht einzelner Kapitel, dass die Kunstdiskurse in einer übernationalen Perspektive besprochen werden. Viele der Autorinnen und Autoren kommen dabei zu dem Schluss, dass der Blick von außen häufig dazu diente, die eigene Kunst und Gesellschaft zu beurteilen und in Abgrenzung zum Anderen zu definieren. Élisabeth Décultots Untersuchung zur französischen Rezeption der von Baumgarten und Kant geprägten Ästhetik zeigt weiterhin, dass Unterschiede hinsichtlich nationaler Wissenschaftstraditionen, der Sprache und auch der sozialhistorischen Rahmenbedingungen eine homogene Übernahme bestimmter Diskurse aus anderen Ländern oft schwierig machten. Im empirisch orientierten Frankreich begegnete die aus einer eher metaphysisch geprägten Tradition hervorgehende deutsche Disziplin starkem Widerstand.

Im letzten Drittel des Bandes werden Positionen zur Kunstgeschichtsschreibung im 18. Jahrhundert, insbesondere deren Bedeutung für das Urteil gegenüber der zeitgenössischen Kunst und den Umgang mit den Alten Meistern in den Blick genommen. Gaëtane Maës beobachtet, wie sich ein kommerzielles Interesse am historischen Wissen, der Fähigkeit zur Zuschreibung und des Erkennens von Authentizität herausbildete - ein nicht unproblematisches Wechselspiel zwischen Kunstmarkt und Kunstgeschichte, das bis heute aktuell ist. Eine weitere am Material ansetzende Diskursebene wird von Noémie Étienne aufgezeigt. Sie analysiert den Zusammenhang zwischen historischem Urteil und der Erhaltung, Restaurierung oder auch Entledigung von Werken vergangener Zeiten. Der Tagungsband schließt mit verschiedenen Überlegungen zum Spannungsfeld zwischen Antikenrezeption und Neupositionierung. Letztere gab mit einer von Pascal Griener als "pessimistisch" bezeichneten Kunsthistoriographie der Gegenwart den Vorzug über die Antike.

Auch wenn die Systematik der Anordnung der Beiträge nicht durchgängig überzeugt, so liegt mit dem überaus facettenreichen, international und interdisziplinär ausgerichteten Band - nicht zuletzt dank der umfangreichen Bibliografie und Quellenübersicht im Anhang - ein wichtiges Standardwerk zu den Kunstdiskursen im 18. Jahrhundert vor.

Marlen Schneider