Brigitta Bernet: Schizophrenie. Entstehung und Entwicklung eines psychatrischen Krankheitsbildes um 1900, Zürich: Chronos Verlag 2013, 390 S., 53 Abb., ISBN 978-3-0340-1111-2, EUR 39,50
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Nicht zuletzt durch die Buchtitel "Das Zeitalter der Nervosität" (Joachim Radkau) und "Die nervöse Großmacht" (Volker Ullrich) ist es zum Gemeingut der historisch interessierten Öffentlichkeit geworden, dass seelischen Störungen und geistigen Erkrankungen an der Wende zum 20. Jahrhundert politische Bedeutung zugeschrieben werden kann. Die sich durch Technisierung und Mobilisierung beschleunigende Welt faszinierte die einen und überforderte die anderen. Wilhelm II., durch sein "Geburtstrauma" (John C. G. Röhl) womöglich besonders anfällig, repräsentiert diese Zeit: Mit der Begeisterung für das Neue hielt die politische Einsichtsfähigkeit nicht stand.
Allein schon diese soziokulturelle Beschreibung der Jahrzehnte um 1900 lässt es angezeigt erscheinen, sich mit psychiatrischen Krankheitsbildern jener Zeit zu befassen. Dies hat nun Brigitta Bernet mit ihrer von der Philosophischen Fakultät Zürich angenommenen Dissertation getan. Vor allem die Exegese von Texten Eugen Bleulers und die eindringliche Schilderung der Arbeit in seiner Reformanstalt Burghölzli machen die Studie über weite Strecken zu einer wissenschaftlichen Biografie Bleulers. Im Zentrum aber stehen die Krankheitsbilder, die Emil Kraepelin seit den 1890er-Jahren mit dem Terminus "Dementia praecox" umschrieben und Bleuler seit 1908 "Schizophrenie" genannt hat.
Schon diese Begriffsgeschichte liest sich bei Bernet spannend wie ein Kriminalroman. In ihrer "Der Auftritt der Schizophrenie im Jahr 1908" überschriebenen Einleitung schildert sie Bleulers historischen Vortrag während der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie am 24. April 1908. Der Zürcher Psychiatrieprofessor und Anstaltsdirektor erklärte Kraepelins Terminus für ungeeignet. Der Demenzbegriff suggeriere eine unwiederbringliche Zerstörung der intellektuellen Fähigkeiten. Spreche man hingegen von "Schizophrenie", werde deutlich, dass man es mit Kranken zu tun habe, die unter Assoziationsstörungen bis hin zu einer Spaltung der Persönlichkeit litten, aber grundsätzlich heilbar seien.
Der während der Rede anwesende Kraepelin gestand zu, dass es zu einer "praktischen", wenn auch nicht zu einer wirklich "medizinischen" Heilung kommen könne, kritisierte aber vor allem die von Bleuler vorgenommene Ausweitung des Krankheitsbildes (13). In der Tat hatte Bleuler Sprachzerfall, Verfolgungswahn, Halluzinationen, Ambivalenz und Autismus als mögliche Symptome der Schizophrenie gedeutet. Diese Bedenken schwelten, bis sie Ludwig Binswanger 1932 in eine Kritik der Uneindeutigkeit des Assoziationsbegriffs fasste. Mit 1932 ist denn auch für Bernet das "Verfallsdatum des Bleuler'schen Konzepts" erreicht (335). Zum Begriffswechsel sagte Kraeplin 1908 anders als sein Kollege Clemens Neisser nichts. Neisser meinte, das Wort "Schizophrenie" werde "sich nicht leicht einbürgern" (14). Das Gegenteil war der Fall. Das vermeintlich schwere Fremdwort erlebte eine Karriere, die es durchaus auch in einem negativen, denunziatorischen Sinne in den Sprachgebrauch eingehen ließ.
Bernet dringt freilich tiefer. Sie versteht die unter den Terminus Schizophrenie fallenden Krankheitsbilder als "historisch wandelbare Konstruktionen", die "über den engen Bereich der Medizin" hinausreichen (20). Um der Konstruktion "Schizophrenie" auf den Grund zu gehen, blickt sie auf das ausgehende 18. Jahrhundert und den Beginn der modernen Psychiatrie im Schatten der Französischen Revolution. Der Pariser Arzt Philippe Pinel und viele seiner Kollegen in der aufgeklärten Gesellschaft befreiten die Geisteskranken von den Ketten und suchten nach Therapien. Das neue "Referenzsystem" hieß, so fasst es Bernet bündig zusammen, "Vernunft und Bürgerlichkeit" (35). Die Psychiatrie etablierte sich als universitäres Fach. Oft waren die Professoren zugleich Anstaltsleiter, was Bernet am idealtypischen Beispiel von Wilhelm Griesinger als Direktor der Irrenanstalt Burghölzli (Zürich) nachzeichnet. Freilich blieb der Umgang mit den Kranken umstritten. Griesingers Ablehnung von Zwang (No-Restraint-Prinzip) fand keine breite Zustimmung - zumal scheinbar oder tatsächlich neue Probleme die nunmehr professionalisierte Psychiatrie herausforderten. Sie sollte Antwort geben auf die "soziale Frage", die so weite Felder wie Kriminalität, Sexualität, Prostitution und Alkoholismus umfasste.
Dem war die Psychiatrie nur bedingt gewachsen. Bernet erinnert an Griesingers frühe Warnung vor der krankmachenden oder krankheitsverschärfenden Wirkung eines Anstaltsaufenthalts (Hospitalismus), die in einer "Irrenreformbewegung" zugunsten der "lebendig Begrabenen", wie es in einem Zürcher Flugblatt 1902 heißt, mündete (93). Psychiatrieskandale beschäftigten nunmehr verstärkt die Presse. Umso wichtiger war es für Bleuler, die Professionalität der Psychiatrie zu betonen, das "Deutungsmonopol für psychische Störungen gegen Laiendeutungen, [...] Allgemeinpraktiker und Nervenärzte zu behaupten" (133). Bernet spricht unter der Überschrift "Populärwissenschaftliche Vorstösse" von "rhetorischen Einschüchterungsstrategien" Bleulers zugunsten der Patienten, denen er bei früher fachlicher Behandlung bessere Heilungschancen zumaß (132f.). Widerspruch anderer Art erfuhr die Psychiatrie durch die Rechtswissenschaft. Beide "Bezugssysteme" standen sich "mehr oder weniger unvereinbar gegenüber" (137). Auch hier gehörte Bleuler zu denjenigen, die Brücken bauten und 1901 an der Zürcher Medizinischen Fakultät die "gerichtliche Psychiatrie" als obligatorisches Examensfach durchsetzen konnten.
Von 1898 bis 1927 stand Bleuler dem Burghölzli vor. Dieses psychiatrische "Experimentalsystem" schildert Bernet bis in die baulichen Einzelheiten, die den hierarchisch strukturierten "Anstaltsorganismus" ermöglichten. Bleuler hielt es für therapiefördernd, eine strukturelle "Homologie zwischen Anstalt und Gesellschaft" zu erreichen (226). Klassenlosigkeit oder kasernenförmige Unterbringung lehnte er ab. Im Gegenteil vertraute er darauf, dass in der Ersten Klasse untergebrachte Patienten disziplinierend auf die "unteren Klassen" wirkten und zugleich einen gesunden Umgang mit diesen erlernten (226). Bleuler selbst wurde "moralisches Vorbild einer therapeutischen Gemeinschaft, die sich selbst als Mikrokosmos einer ideal organsierten Gemeinschaft begriff" (274). Damit wurden mit Blick auf die Patienten und ihrer Erkrankungen objektive und subjektive Betrachtungsweisen in einer Weise verschränkt, die Kritikern eine breite Angriffsfläche bot. Doch unabhängig von dem in Burghölzli eingeschlagenen Weg der Therapie war Bleulers Konstrukt der "Schizophrenie" erfolgreich. Es bot mehr als Zivilisationskritik und konnte psychiatrische Krankheitsbilder in einem natur- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang als einen (in der Menschheitsgeschichte keineswegs singulären) Anpassungskonflikt deuten. Das machte seine Attraktivität aus, die nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland zur offiziellen Anerkennung der Schizophreniediagnose führte.
Der Wert von Brigitta Bernets Buch liegt nicht im Aufzeigen von grundsätzlich Neuem, sondern in der Art der Verknüpfung von biografischen, kultur- und sozialhistorischen, wissenschafts- und medizingeschichtlichen Fragestellungen. Schizophrenie wird als "wissenschaftliche Tatsache" und "kulturelles Deutungsmuster" beschrieben (345). Dabei folgt sie erkenntnistheoretischen Anforderungen Ludwig Flecks und gliedert ihre Arbeit streng in drei Abschnitte mit je zwei Kapiteln, die allesamt in ein Fazit münden. Das Buch ist um 53 gut ausgewählte Abbildungen angereichert. Der wissenschaftliche Benutzer wird ein Register schmerzlich vermissen, gerade weil das Buch keiner schlichten Chronologie folgt.
Ralf Forsbach