Martin Knoll: Die Natur der menschlichen Welt. Siedlung, Territorium und Umwelt in der historisch-topografischen Literatur der Frühen Neuzeit (= Bd. 42), Bielefeld: transcript 2013, 461 S., 72 s/w-Abb.; 4 Tabellen, ISBN 978-3-8376-2356-7, EUR 39,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Verena Lehmbrock: Der denkende Landwirt. Agrarwissen und Aufklärung in Deutschland 1750-1820, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020
Christian Möller: Umwelt und Herrschaft in der DDR. Politik, Protest und die Grenzen der Partizipation in der Diktatur, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020
Frank Uekötter (ed.): Comparing Apples, Oranges, and Cotton. Environmental Histories of the Plantation, Frankfurt/M.: Campus 2014
Martin Knoll: Umwelt - Herrschaft - Gesellschaft. Die landesherrliche Jagd Kurbayerns im 18. Jahrhundert, St. Katharinen: Scripta Mercaturae Verlag 2004
Martin Knoll / Katharina Scharf: Europäische Regionalgeschichte. Eine Einführung, Stuttgart: UTB 2021
Verena Winiwarter / Martin Knoll: Umweltgeschichte. Eine Einführung, Stuttgart: UTB 2007
Der Titel, den Martin Knoll für seine 2012 von der Technischen Universität Darmstadt angenommene Habilitationsschrift gewählt hat, verrät viel über das Untersuchungsziel und den Blickwinkel des Autors: Wenn eine Natur der menschlichen Welt existiert, muss es deren viele geben. Knoll sprengt den monolithischen Block 'Natur' und zerteilt ihn in Fragmente, die einem Beobachter attributiv beigegeben werden können. Nur vordergründig wählt er damit eine herkömmliche, anthropozentrische Ausgangsposition, sondern verfolgt stattdessen konsequent das Ziel, die Umweltgeschichte aus einer theoretischen Sackgasse zu befreien. Viel zu lange habe sie sich an großen Dichotomien wie Gesellschaft-Umwelt, Kultur-Natur oder Konstruktivismus-Naturalismus abgearbeitet (92-94).
Knoll weiß, wovon er schreibt, hat er doch 2007 gemeinsam mit Verena Winiwarter eine Einführung in die Umweltgeschichte vorgelegt, die bereits in Umrissen sein aktuelles Arbeitsprogramm umriss. [1] Zudem war mit Reinhold Reith als Gutachter ein ausgewiesener Fachmann der frühneuzeitlichen Umweltgeschichte an der Entstehung des Werkes beteiligt. [2] Seinen nun vorgelegten Weg aus der Sackgasse beschreibt Knoll als wahrnehmungsgeschichtliche Analyse des komplexen Beziehungsgefüges zwischen Gesellschaft und Natur und macht sich damit die Aufgabe der Umweltgeschichte zu eigen, Wahrnehmung und Interpretation vergangener Umweltbedingungen durch die zu einem bestimmten Zeitpunkt lebenden Menschen zu rekonstruieren.
Als Untersuchungsobjekt wählt er frühneuzeitliche Topografien, konkret solche des oberen Donauraums. Das Forschungsdesign zielt nicht darauf ab, diesen heterogenen Medienverbund aus Texten, Grafiken und Karten für eine Rekonstruktion vergangener Umweltzustände heranzuziehen, sondern die "vielfältigen Verknüpfungen zwischen biophysischen Arrangement und gesellschaftlichen Praktiken [...], die sozionaturale Schauplätze konstituieren" offenzulegen (12).
Der hier zitierte, etwas sperrige Satz aus der Einleitung enthält nahezu alle zentralen Arbeitsbegriffe der Untersuchung, deren ersten 114 Seiten die intensive, theoretische Auseinandersetzung des Autors mit seinem Forschungsgegenstand anzumerken ist. Weniger begabten Anwendern des soziologischen Begriffshorizontes und Neulingen in der Umweltgeschichte wird der Einstieg in Knolls Arbeit entsprechend schwerfallen. Gleichzeitig wirken teilweise über mehrere Seiten gehende Zusammenfassungen der Sekundärliteratur nicht weniger irritierend, vor allem wenn sie, wie im Fall einer Arbeit der Kunsthistorikerin Ulrike Fuss mit dem - in jedem historisch arbeitenden Proseminar vermittelten - Hinweis an die "historische[...] Zunft" schließen, man dürfe die für die Untersuchung herangezogenen Stiche der Frühen Neuzeit nicht unkritisch als Bildquelle gebrauchen (66).
Von diesen kleineren Monita abgesehen - und dies sei mit aller Deutlichkeit betont - ist die Arbeit Knolls ein beeindruckender Beleg für die Vielfalt und das Innovationspotential der umwelthistorischen Forschung. Dem Autor gelingt nämlich dreierlei: Zum ersten schärft er mit seiner Untersuchung den Charakter der Frühen Neuzeit als Epoche. Grundlage dafür bilde die Charakteristik der historisch-topografischen Literatur, die die mittelalterliche Chronistik mit ihren sinnbildlichen Darstellungen und transzendenten Verweisen ablöse und selbst von einer modernen, von der Aufklärung beeinflussten Statistik verdrängt werde. Den zunehmenden Realismus in Text und Darstellung sieht Knoll mit den Anforderungen der Zeit begründet, etwa von exakten Karten für die Seefahrt oder genauen Grenzverläufen der sich verfestigenden Territorialstaaten.
Zum zweiten legt Knoll einen grundlegenden Konflikt der Frühen Neuzeit offen, nämlich den Versuch der Landesherren, intermediäre Gewalten in ihren Rechten zu beschneiden. Am Beispiel der 1701 erschienen Historico topographica descriptio Kurbayerns rekonstruiert er den Entstehungskontext des Werkes und zeichnet den gesamten Prozess von der Informationserhebung über die Redaktion bis hin zu seiner Veröffentlichung nach. Diese, maßgeblich von landesherrlichen Institutionen betriebene Topografie ergab zwar ein realistisches Bild des Landes, blendete aber dynastische Konflikte aus, marginalisierte den Landadel und stellte sogar reichsunmittelbare Gebiete wie selbstverständlich als bayrische Gebiete dar. Zwar dienten nicht alle Topografien als Instrument der Herrschaftsrepräsentation, aber auch bei den Topografien aus dem Hause Merian, die weitgehend unabhängig von Landesfürsten erstellt wurden, kann Knoll eine Gemeinsamkeit mit dem kurbayrischen Beispiel feststellen. Alle untersuchten Topografien durchziehe eine Nivellierung, allzu schlechte Voraussetzungen wurden ebenso abgemildert, wie allzu gute Bedingungen für die Landwirtschaft. Hinzu kommt die mediale Entpolitisierung von Konflikten aus Gründen der Marktgängigkeit, ausführlich dargestellt an einem Stich der steinernen Brücke zu Regensburg, das als Reichsstadt mit Kurbayern in einem ständigen Konflikt über den Verlauf der Donau lag (298-300).
Zum dritten - und hier liegt eine besondere Leistung Knolls - findet er tatsächlich den Weg aus der dichotomischen Sackgasse heraus. Er stellt sich nicht die Frage, ob das, was in den topografischen Texten geschrieben oder in Grafiken und Karten abgebildet ist, dem tatsächlichen Augenschein, dem 'Blick aus dem Fenster', entsprach. Zielführender sei die Frage, warum etwas abgebildet worden sei und warum nicht. Diese Frage geht über das zum zweiten Punkt geschriebene hinaus, denn sie befasst sich mit historisch-topografischer Literatur als Produkt gesellschaftlicher Werte und Normen und der Extraktion von Ideen und Konzepten einer Epoche aus eben dieser Literatur heraus. Zentrales methodisches Instrument ist dabei das Konzept des sozionaturalen Schauplatzes von Verena Winiwarter und Martin Schmid. Analog zum Kompositum 'sozioökonomisch' spiegelt dieser Begriff die vollständige Durchdringung von Natur und Gesellschaft wider (112). Geschichtsträchtig wird ein sozionaturaler Schauplatz durch die Veränderung der Praktiken und Arrangements, die ihn konstituieren. Eine Topografie sei daher immer auf drei Ebenen hin zu untersuchen: Erstens auf die Momentaufnahme des dargestellten Schauplatzes, zweitens auf die Chronik der vorangegangen Nutzung und drittens auf die Vision des künftigen Wandels (75-76).
Als Fluchtpunkt für den darstellenden Teil seiner Arbeit hat sich Knoll die Hydrografie gewählt, genauer: die Stadt am Fluss. Der Befund für die Residenzstadt München hat dabei für alle beschriebenen Städte Gültigkeit. Dargestellt werde eine ideale Stadt in einer idealen Landschaft, die durch den Zugang zu allen notwendigen Ressourcen privilegiert ist (249). Die Gefahren fluvialer Dynamik, etwa durch Überschwemmungen oder drohenden Verlust zum Zugang eines schiffbaren Flusses wie im Falle des südlichen Donauarms in Wien, wurden ebenso ausgeblendet wie Konflikte um die Ressource Wasser, wie etwa im Fall Augsburgs und des Hochablasses am Lech (206-207). Während das Attribut der Nützlichkeit über die gesamte Epoche der Frühen Neuzeit hinweg die Beschreibung einer Landschaft als ästhetisch und 'schön' rechtfertigte, unterlag die jeweilige Bewertung der Nützlichkeit einem starken Wandel. Knoll exemplifiziert dies an der landesherrlichen Jagd. Galten im 16. und 17. Jahrhundert stadtnahe Jagdreviere als nützlich - und daher schön -, wurden sie im späten 18. Jahrhundert als hinderlich für die Entwicklung der Stadt extra muros dargestellt. Sie wandelten sich "vom fürstlichen Statussymbol zum gesellschaftlichen Schädling" (264).
Der knappe Raum einer Rezension macht es unmöglich, alle Facetten, die der Autor in seiner Arbeit anspricht, kritisch zu würdigen. Zentral und daher an dieser Stelle besonders hervorzuheben ist sein als gelungen zu bewertender Versuch, die Umweltgeschichte methodisch zu bereichern und bisher prägende Dichotomien aufzubrechen. Die Natur, die Martin Knoll in den Topografien findet, ist durch und durch vom gesellschaftlichen Handeln geprägt. Sie ist eine Natur der menschlichen Welt.
Anmerkungen:
[1] Verena Winiwarter / Martin Knoll: Umweltgeschichte. Eine Einführung (= UTB; Bd. 2521), Köln / Weimar / Wien 2007.
[2] Reinhold Reith: Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit (= Enzyklopädie deutscher Geschichte; Bd. 89), München 2011.
Tobias Huff