Albert Fischer: "Visitiere deine Diözese regelmäßig!". Klerus und kirchliches Leben im Dekanat Vinschgau im Spiegel der Churer Visitationen zwischen 1595 und 1779 (= Schlern-Schriften; 358), Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 2012, 640 S., ISBN 978-3-7030-0807-8, EUR 58,00
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Pfarrvisitationen der Bischöfe sind seit dem 6. Jahrhundert belegt. Im Spätmittelalter gerieten sie in Zusammenhang mit dem Bedeutungsverlust des bischöflichen Hirtenamts in Verfall. Eine Wiederbelebung erfuhr das Visitationswesen in den 1520er Jahren zunächst im Zusammenhang mit der Reformationseinführung in Sachsen, für die katholische Kirche gingen wichtige Impulse vom Trienter Konzil (1545-1563) aus, auf dem die Position des bischöflichen Amtes gestärkt wurde und das regelmäßige Visitationen anordnete. Die Durchsetzung dieser Beschlüsse zog sich in vielen Bistümern bis ins 17. Jahrhundert hin, wie auch die von Albert Fischer vorgelegte Untersuchung aus der Diözese Chur zeigt. Im Mittelpunkt der Studie stehen die bischöflichen Visitationen, die zwischen 1595 und 1779 in den 32 Pfarreien des Dekanats Vinschgau durchgeführt wurden.
Die Untersuchung gliedert sich in zwei Teile, die Analyse der einzelnen Visitationen und die Edition bischöflicher Erlasse sowie anderen Schriftguts aus einzelnen Pfarreien. Im darstellenden Teil liefern die ersten drei Kapitel Hintergrundinformationen zum Bild des Priesters und (Pfarr-)Seelsorgers in AT und NT sowie dessen Veränderung infolge des Trienter Konzils, zur allgemeinen Geschichte der kirchlichen Visitation vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert und zu entsprechenden Weisungen der kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten. Grundlegend für die neuzeitlichen Visitationen der katholischen Kirche war das auf dem Konzil neu gefasste Bischofs- und Priesterideal, nach dem die Bischöfe und Pfarrer nicht nur "Funktionäre", sondern Hirten ihrer Diözesen und Gemeinden sein sollten.
Da sich im Bistum Chur keine Diözesansynoden entwickelt hatten, suchten die Bischöfe die Konzilsbeschlüsse mit Verordnungen durchzusetzen. Nach ersten Reformmandaten, die Ende des 16. Jahrhunderts darauf abzielten, die Verbreitung protestantischer Einflüsse zu unterdrücken, legte Bischof Johann V. Flugi mit seinem Statut "Decreta et Constitutiones" von 1605 den Grund für eine intensivierte Visitationstätigkeit (Quellenanhang, 465-568). Ein wichtiges Element diözesaner Aufsicht stellten schließlich die im Laufe des 17. Jahrhunderts eingeführten Kirchenmatrikel (Tauf-, Ehe- und Sterbeverzeichnisse) dar.
Nach diesen Abschnitten grundlegender Art wendet sich Albert Fischer der Quellenauswertung zu, die den umfangreichsten Teil des Bandes einnimmt (91-464). Fischer gibt zunächst einen Überblick über die 13 im Untersuchungszeitraum veranstalteten Visitationen, die im Durchschnitt alle 14 Jahre, tatsächlich aber unregelmäßig, in Abständen von vier bis 24 Jahren stattfanden, davon die Mehrzahl im 17. und 18. Jahrhundert. Für jede dieser Reisen zeichnet er Vorgeschichte und Verlauf nach und hebt Besonderheiten hervor. In tabellarischen Übersichten werden Informationen zu den Pfarreien und den dort angetroffenen Geistlichen zusammengefasst. Auch die Reisewege der Visitatoren, die nicht immer den gleichen Verlauf nahmen, lassen sich den chronologisch angelegten Tabellen entnehmen.
Der große Aufwand, den die Bereisung jeder einzelnen Pfarrei bedeutete, führte schließlich dazu, dass man im Laufe des 18. Jahrhunderts zu Mittelpunktvisitationen überging, bei denen die Geistlichen mehrerer Pfarreien an einen zentralen Ort bestellt und dort befragt wurden. Auf diese Weise wurde schließlich nur noch knapp die Hälfte der 32 Vinschgauer Pfarrorte von den Visitatoren persönlich in Augenschein genommen.
Im folgenden Kapitel wertet Albert Fischer die Visitationsergebnisse auf der Grundlage von 11 Pfarreien, die eine besonders dichte Quellenlage aufweisen, aus. Das bischöfliche Interesse bezog sich auf die kirchenrechtlichen Verhältnisse der Pfarrei, auf Leben und Wirken der Ortsgeistlichen sowie die Ausstattung der Kirchen und ihre wirtschaftlichen Verhältnisse. Häufig stellten die Visitatoren fest, dass verschiedene vasa sacra nicht vorhanden, nicht in ordnungsgemäßem Zustand oder nicht am richtigen Ort platziert waren. Mehrere Pfarrer wurden zur Anschaffung von Beichtstuhl, Weihwasserbecken, des Rituale Romanum und anderer liturgischer Bücher aufgefordert und zur Zelebration nach diesen ermahnt. Auch die schlechten baulichen Zustände von Kirche und Pfarrhaus wurden häufig moniert, wohingegen die Errichtung von Dämmen gegen Hochwasser zu den naturgegebenen Besonderheiten nur einzelner Pfarreien gehörten.
Hinsichtlich der Amtsführung fiel auf, dass einige Pfarrer nicht genügend Messen feierten, die katechetische Unterweisung nicht ausreichend pflegten oder nicht regelmäßig predigten. In manchen Pfarreien wurden die Feier zu vieler regionaler Festtage, mangelnde Sonntagsheiligung und Nichtbeachtung der im 17. Jahrhundert für viele Pfarreien eingeführten Gebührenordnungen für sakrale Amtshandlungen (Stolgebühren) kritisiert (z.B. 239f., 325-328, 343f.). Weitere Monita bezogen sich auf den Lebenswandel der Ortsgeistlichen, die im Konkubinat lebten oder zu häufig ins Wirtshaus gingen. Im Hinblick auf die finanziellen Verhältnisse lassen sich den Quellen detaillierte Angaben zum Vermögensstand jeder einzelnen Pfarrei entnehmen (z.B. 332, 413-421, 451f.).
Albert Fischer hat die Vinschgauer Visitationsakten nicht unter einer einschränkenden Forschungsfrage ausgewertet, sondern folgt dem breit angelegten Interesse der Visitatoren. In die beschreibende Darstellung fügte er immer wieder Tabellen ein, die einen guten Überblick über die Visitationsabläufe und die Themen der Untersuchung geben. Aufschlussreich ist auch die Karte des Dekanats Vinschgau und seiner Pfarreien, die durch die Wiedergabe naturräumlicher Gegebenheiten (Pässe, Täler, Flüsse) auch einen Eindruck von den alpinen Verhältnissen vermittelt (93). Der Überblick zur Geschichte des Visitationswesen vom Frühmittelalter bis ins 18. Jahrhundert (33-38) fällt allerdings etwas knapp aus. Auch wenn, wie Fischer betont, das Dekanat Vinschgau von den "Wirren der Reformation" (17, 38) nicht berührt worden ist, hätten hier die Grundzüge des protestantischen Visitationswesens seit Ende der 1520er Jahre, dessen Impulse sich auch im Visitationsbeschluss des Tridentinum spiegeln, vorgestellt und mit den katholischen Visitationen kontrastiert werden können.
Auf die Bebilderung des Bandes mit bis zur Unleserlichkeit verkleinerten Abbildungen einzelner Seiten aus den Akten (z. B. 221, 238f., 326, 377) hätte man indes verzichten können. Fischers wichtige Studie hat keine derartige Illustrationen nötig, sondern überzeugt allein schon durch ihre vorbildliche Quellenauswertung. Vor dem Hintergrund, dass ein großer Teil aller nachtridentinischen Visitationsakten der katholischen Kirche noch unveröffentlicht und folglich unausgewertet ist [1], kann Albert Fischers Untersuchung gar nicht genug Bedeutung beigemessen werden. Zudem stellt sie ein konfessionelles Gegengewicht zu den bislang mehrheitlich auf protestantischen Visitationsakten basierenden Untersuchungen dar. [2]
Anmerkungen:
[1] Vgl. jedoch aktuelle Editionen aus anderen Diözesen: Katholische Reform im Fürstbistum Münster unter Ferdinand von Bayern. Die Protokolle von Weihbischof Arresdorf und Generalvikar Hartmann über ihre Visitationen im Oberstift Münster in den Jahren 1613 bis 1616, bearb. von Heinrich Lackmann und Tobias Schrörs, hgg. von Reimund Haas und Reinhard Jüstel (Westfalia Sacra; 16), Münster 2012. Visitationen im Herzogtum Westfalen in der Frühen Neuzeit, bearb. von Manfred Wolf (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen N.F.; 5/ Veröffentlichungen zur Geschichte der mitteldeutschen Kirchenprovinz; 22), Paderborn 2012.
[2] Zu den jüngsten Studien zu Visitationen in evangelischen Territorien gehört Päivi Räisänen: Ketzer im Dorf. Visitationsverfahren, Täuferbekämpfung und lokale Handlungsmuster im frühneuzeitlichen Württemberg (Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven; 21), Konstanz 2011.
Sabine Arend