Rezension über:

Simon Marti: Schweizer Europapolitik am Wendepunkt. Interessen, Konzepte und Entscheidungspozesse in den Verhandlungen über den Europäischen Wirtschaftsraum (= Politik und Demokratie in den kleineren Ländern Europas; Bd. 5), Baden-Baden: NOMOS 2013, 400 S., ISBN 978-3-8329-7808-2, EUR 64,00
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Rezension von:
Burkard Steppacher
Universität zu Köln
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Burkard Steppacher: Rezension von: Simon Marti: Schweizer Europapolitik am Wendepunkt. Interessen, Konzepte und Entscheidungspozesse in den Verhandlungen über den Europäischen Wirtschaftsraum, Baden-Baden: NOMOS 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 2 [15.02.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/02/22856.html


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Simon Marti: Schweizer Europapolitik am Wendepunkt

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Mit Spannung nimmt man das Buch von Simon Marti in die Hand: Der Titel "Schweizer Europapolitik am Wendepunkt" könnte nicht aktueller gewählt sein, befindet sich die Europapolitik der Eidgenossenschaft doch seit ein, zwei Jahren in einer Phase der Neupositionierung, Neuorientierung und einer damit verbundenen heftigen innenpolitischen Diskussion. Der seit Ende der 1990er Jahre beschrittene "bilaterale Weg", bei dem die Schweiz mit der Europäischen Union zwei umfangreiche Pakete von bilateralen Abkommen abschließen konnte, scheint nach ersten Erfolgen mittlerweile in eine Sackgasse geraten zu sein. [1]

Die Europäische Union lehnt inzwischen ein eventuelles drittes Paket einzelner bilateraler Abkommen ab und verlangt stattdessen von der Schweiz, die bilateralen Beziehungen künftig übersichtlicher zu strukturieren: Konkret muss ein besserer (horizontaler) institutioneller Rahmen gefunden werden, um der Einheitlichkeit (Homogenität) der Anwendung und Auslegung der Bestimmungen in den bilateralen Verträgen angemessen Rechnung tragen zu können. Ebenso sollte aus EU-Sicht die Überwachung der Umsetzung der bilateralen Abkommen, deren eventuelle Fortentwicklung sowie die Streitbeilegung besser geregelt werden.

Zu dieser aktuellen europapolitischen Diskussion schreibt Simon Marti mit seiner nun überarbeitet als Buch veröffentlichten Basler Dissertation aus dem Jahr 2011 quasi die Vorgeschichte, mit der er im Detail verdeutlicht, wie die gegenwärtige europapolitische Situation der Schweiz entstanden ist: Ende der 1980er Jahre stand die Schweiz schon einmal vor der Frage, wie sie ihre Position zu den europäischen Nachbarn neu definieren könne. Am damals entstehenden EG-Binnenmarkt wollte die Schweiz gerne partizipieren, allerdings ohne Mitgliedschaft bei der supranationalen Gemeinschaft. Seitens der EG schlug im Januar 1989 der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors den Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) die Schaffung eines "Europäischen Wirtschaftsraumes" vor. Allerdings änderten sich die politischen Rahmenbedingungen innerhalb kurzer Zeit: Durch die gesamteuropäischen Veränderungen im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und die zunehmende Zahl der Beitrittswünsche zunächst der mittel- und osteuropäischen Staaten, dann auch der meisten EFTA-Staaten, veränderte sich die Situation auch für die Schweiz. Die europapolitische Position in der Schweizer Bevölkerung und bei den (wirtschafts-)politischen Akteuren des Landes war gespalten bzw. dreigeteilt zwischen dem Wunsch nach neutralem Abseitsstehen, EWR-Teilhabe und Vollbeitritt zur EU. Da der Bundesrat (Regierung) sich langfristig für einen EU-Beitritt aussprach, wurde der Mittelweg EWR in der Bevölkerung zunehmend als erster Schritt auf der "Rutschbahn zur EU" angesehen und scheiterte letztlich im Referendum über den EWR am 6. Dezember 1992.

Die Studie von Marti untersucht detailliert die schweizerischen Entscheidungsprozesse in den Verhandlungen über den Europäischen Wirtschaftsraum und die dabei zugrunde liegenden Interessen und Konzepte. Dies wurde in Teilaspekten bereits in den 1990er Jahren in verschiedenen Studien untersucht [2], wird nun aber von Marti auf der Grundlage von relevanten Akten aus dem Schweizerischen Bundesarchiv und weiterer Archive umfassend neu analysiert und bewertet.

Das Handeln der Akteure wird von Marti methodisch untersucht mit einer Kombination von Außenpolitikanalyse, hier der Rollentheorie, und des korporatistischen Ansatzes, wobei besonders die Rolle der Spitzenverbände und ihr Verhältnis zu Bundesrat, Integrationsbüro und anderen Akteuren der Bundesverwaltung ausgeleuchtet wird. Das Parlament und die Parteien spielen im Feld der Außenpolitik eine bemerkenswert geringe Rolle, was allerdings im Kontext der direktdemokratischen Mechanismen der Schweiz zu relativieren ist.

In seiner empirischen Untersuchung unterteilt Marti den beobachteten Zeitraum (1988-1992) in sechs Phasen und zeichnet die Entscheidungsprozesse zwischen Regierung, Verwaltung und Spitzenverbänden in den EWR-Verhandlungen fein differenziert nach. Mit der Kombination von korporatistischem Ansatz und Rollentheorie lässt sich der geradezu radikale europapolitische Positionswechsel der Schweiz von einem anfänglich eher "unpolitischen" Wirtschaftsakteur hin zum EU-Beitrittskandidaten nachvollziehbar erklären; zugleich wird anschaulich aufgezeigt, warum auf dieser Grundlage der EWR in der Volksabstimmung geradezu zwangsläufig scheitern musste.

Denn - das ist eben der Unterschied von Politikwissenschaft und konkreter Politik - eine noch so plausible Erklärung der Motive der Akteure macht allenfalls nachträglich klar, was sich europapolitisch für die Schweiz verändert hat. Den Stimmbürgern war im EWR-Abstimmungskampf 1992 eine solche Veränderung der außenpolitischen Agenda nicht vermittelbar, zumal ein Teil der Handelnden, speziell die binnenwirtschaftlichen Akteure, das Projekt nicht oder nur zögernd mittrugen. [3]

Je stärker ein EU-Beitritt als konsequenter Schlusspunkt schweizerischer Europa- bzw. Außenwirtschaftspolitik sichtbar wird, desto schwieriger erscheint es auch heute, dafür eine Mehrheit von Volk und Ständen zu gewinnen. Das Buch von Marti zeigt in nüchterner wissenschaftlicher Sprache, vor welcher Herausforderung die Schweiz auch heute steht.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Burkard Steppacher: "Draussen und doch mittendrin: Die Schweiz und die EU. Das Modell der bilateralen Verträge", in: Der Bürger im Staat, 57 (2007), 75-80. http://www.buergerimstaat.de/1_2_07/das_groessere_europa.pdf

[2] Vgl. u.a. Laurent Goetschel: Zwischen Effizienz und Akzeptanz: Die Information der Schweizer Behörden im Hinblick auf die Volksabstimmung über den EWR-Vertrag vom 6. Dezember 1992, Bern 1994; Petra Huth-Spiess: Europäisierung oder "Entschweizerung"? Der Abstimmungskampf der Schweiz um den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum, Bern 1996; Ralf Langejürgen: Die Eidgenossenschaft zwischen Rütli und EWR: Der Versuch einer Neuorientierung der Schweizer Europapolitik, Zürich / Chur 1993.

[3] In einen größeren europapolitischen Kontext stellt das Thema: Dieter Freiburghaus: Königsweg oder Sackgasse? Sechzig Jahre Schweizerische Europapolitik, Zürich 2009.

Burkard Steppacher