Klaus-Peter Friedrich (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Bd. 4: Polen September 1939 - Juli 1941, München: Oldenbourg 2011, 751 S., ISBN 978-3-486-58525-4, EUR 59,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Cornelia Schenke: Nationalstaat und nationale Frage. Polen und die Ukrainer in Wolhynien (1921-1939), München / Hamburg: Dölling und Galitz 2004
Alexander Neumann: "Arzttum ist immer Kämpfertum". Die Heeressanitätsinspektion und das Amt "Chef des Wehrmachtsanitätswesens" im Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf: Droste 2005
Am 13. September 1939 erschien in der New York Times ein aufrüttelnder Bericht über die Pläne der Deutschen zur "Lösung des Judenproblems". Darin wird das Deutsche Nachrichtenbüro mit den Worten zitiert: "Außerdem würde, langfristig betrachtet, die Entfernung des polnischen Judenvolkes aus dem europäischen Bereich Europa einer Lösung der Judenfrage überhaupt näherbringen. Denn es ist gerade dieses Judentum, das durch Geburtenreichtum trotz aller zwischen den beiden Gruppen bestehenden Unterschiede das geburtenschwächere Westjudentum immer wieder zahlenmäßig stärkt". Hellsichtig analysiert die New York Times: "Wie jedoch mit der 'Entfernung' der Juden aus Polen das behauptete 'Erstarken' des westlichen Judentums aufgehalten werden soll, ohne die Juden auszurotten, wird nicht erläutert" (85). Dieses Dokument, das in der vorliegenden Edition abgedruckt ist, umreißt eindrucksvoll die dramatische Entwicklung der nationalsozialistischen Judenpolitik in den knapp zwei Jahren zwischen dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion: Die Besetzung Polens erhöhte auf einen Schlag die Zahl der im deutschen Herrschaftsbereich lebenden Juden auf weit über zwei Millionen. Gleichzeitig schränkte die Kriegserklärung Englands die Möglichkeit massiv ein, die "Judenfrage" auf dem Weg der erzwungenen Emigration zu "lösen". Darüber hinaus legten die Besatzer von Beginn des Krieges gegen Polen eine Brutalität im Umgang mit der jüdischen Bevölkerung an den Tag, die selbst die Geschehnisse der Pogromnacht von 1938 - dem bis dato grausamsten Ausbruch antijüdischer Gewalt im Deutschen Reich - weit in den Schatten stellte. Seit Herbst 1939 mussten die Juden weiß-blaue Armbinden mit einem Davidstern tragen. Zur selben Zeit wurden im besetzten Polen die ersten Gettos eingerichtet und Juden zu Zwangsarbeit verurteilt. Systematische Mangelernährung und Entkräftung führten zum Massensterben in den eingezäunten Stadtbezirken, jegliche Form von Ungehorsam wurde mit brutaler Gewalt, meistens mit Exekution beantwortet.
Zudem sollte das neu geschaffene Generalgouvernement zum Auffanggebiet für Juden aus dem Reich werden, ohne dass eine wirklich überzeugende Antwort gefunden worden war, wie dies zu geschehen hätte. 1941 war die gewaltsame Entwicklung soweit gediehen, dass sich der Massenmord als probates Mittel zur "Lösung der Judenfrage" den Akteuren gleichsam aufdrängte. In einem Vermerk schlug der Leiter der Umwandererzentralstelle Posen, Rolf-Heinz Höppner vor, die nicht mehr arbeitsfähigen Juden durch "irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen" (681). Der Krieg gegen die Sowjetunion stellte dann zugleich den Übergang zum millionenfachen Massenmord an den europäischen Juden dar. Die düstere Vorausahnung der amerikanischen Journalisten hatte sich als richtig erwiesen.
Der vorliegende Band zeichnet die Radikalisierung der Judenpolitik in den deutsch besetzten Teilen Polens nach. Eine hervorragende Einleitung führt in die Problematik des Bandes unter drei Gesichtspunkten ein: Einem Überblick über die Tradition jüdischen Lebens in Polen folgen Ausführungen zur nationalsozialistischen "Judenpolitik" sowie zum Polen der Zwischenkriegszeit und den Lebensbedingungen der dortigen jüdischen Bevölkerung. Solch einer Perspektivenvielfalt ist auch die Auswahl der im Folgenden abgedruckten 321 Dokumente verpflichtet. Täter- und Opferperspektive finden gleichermaßen Eingang in den Quellenkorpus. Überdies kommen auch nicht direkt beteiligte Beobachter zu Wort. So wird etwa die sehr unterschiedliche Haltung des polnischen Untergrunds zur Situation der Juden beleuchtet, die von Empathie und Hilfsbemühungen über Ignoranz bis zur offenen Zustimmung zu den deutschen Maßnahmen reichte.
Die Auswahl der Quellen zeichnet sich darüber hinaus durch ihre Heterogenität aus; offizielle Befehle, Anordnungen und Berichte finden sich ebenso wie Tagebucheinträge, Briefe und andere Ego-Dokumente. Auch einschlägige Presseartikel werden abgedruckt. Hinlänglich bekannte Dokumente - wie etwa der Bericht von Jan Karski an die polnische Exilregierung vom Februar 1940 - stehen neben Aktenstücken, die hier erstmalig auf Deutsch veröffentlicht werden.
Neben der gelungenen Auswahl der abgedruckten Quellen besticht der vorliegende Band durch die Sorgfalt seiner Bearbeitung. Jedes Dokument wird umfassend und erhellend mit zahlreichen Verweisen auf andere Aktenstücke und die Forschungsliteratur in den Fußnoten kommentiert. Drei Register (für Orte, Personen und Sachen) machen den Band gut benutzbar. Dank herausnehmbarer Karte lassen sich die einzelnen Orte leicht auffinden.
Es ist zu hoffen, dass die nachfolgenden Bände mit ähnlicher Akribie gearbeitet werden. Allerdings wird dem Holocaustforscher trotz der gewaltigen Zahl der in den insgesamt dann 16 Bänden abgedruckten Dokumenten auch in Zukunft der Gang ins Archiv nicht erspart bleiben, übersteigt doch die Menge der einschlägigen Quellen die der hier veröffentlichten bei weitem. Die Edition wird jedoch einen hervorragenden Ausgangspunkt für weitere Archivarbeiten bieten. Mit ihr steht Studenten, Lehrern und Schülern erstmals ein gewaltiger Korpus an Materialien griffbereit zur Verfügung, der sich für Unterricht, Haus- und Seminararbeiten hervorragend nutzen lässt.
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist es jedoch schwer verständlich, weshalb im Internetzeitalter derartige Quellenkonvolute als teure Bücher erscheinen. Der Benutzbarkeit und allseitigen Verfügbarkeit der Edition wäre eine Online-Veröffentlichung sehr zugute gekommen, und angesichts einer Vollfinanzierung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft hätte eine solche Publikationsform durchaus nahegelegen. Es ist zu hoffen, dass die Herausgeber zukünftiger Akteneditionen diesen Weg häufig beschreiten werden.
Alexander Brakel