Maria Stuiber: Zwischen Rom und dem Erdkreis. Die gelehrte Korrespondenz des Kardinals Stefano Borgia (1731-1804) (= Colloquia Augustana; Bd. 31), Berlin: Akademie Verlag 2012, 459 S., ISBN 978-3-05-005901-3, EUR 99,80
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Die vorliegende Augsburger Dissertation von Maria Stuiber nimmt sich mit Stefano Borgia einen für das 18. Jahrhundert nicht ungewöhnlichen Typus eines Kurienkarrieristen zwischen gelehrtem Tun und Dikasterienarbeit vor. Zentrales Anliegen der Arbeit ist die Untersuchung des Korrespondentennetzwerks um Borgia und seine Verortung in der gelehrten Welt.
Gerade mit Blick auf die sich stetig ausdifferenzierende Forschung zur frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit ist es ein besonderer Gewinn, dass Stuiber für ihre Untersuchung einen Protagonisten ausgesucht hat, der so eng mit sämtlichen römischen Dikasterien verbunden war. Das gilt nicht zuletzt auch, weil Borgia abgesehen von der lokalhistorischen Forschung zu Velletri bislang eher weniger bekannt ist.
Früh unter die Fittiche des einflussreichsten Familienmitglieds, des Erzbischofs von Fermo Alessandro Borgia genommen, erfuhr Stefano Borgia eine umfangreiche Ausbildung und Förderung, die ihn für seinen späteren Weg durch die römischen Dikasterien geradezu prädestinieren sollte. Noch vor dem Abschluss seines Studiums des kanonischen Rechts an der Sapienza fand er Zugang zur Accademia degli Erranti in Fermo und zur berühmten römischen Accademia dell'Arcadia. 1754 wurde er mit 27 Jahren Gouverneur von Benevent und anschließend 1764 Sekretär der Indulgenzien-Kongregation, um 1770 zügig in das Amt des Sekretärs der Propaganda-Kongregation zu wechseln. Mit der Kardinalserhebung 1789 eröffnete sich ihm trotz der politischen Umbrüche der Aufstieg in die purpurne Ämterhierarchie vom Camerlengo des Kardinalkollegiums bis hin zum Präfekten der Index- sowie der Propaganda- Kongregation.
Der Studie liegt maßgeblich Borgias Nachlass in Rom zu Grunde, den Stuiber um weiteres Quellenmaterial aus Bonn, Göttingen, Kopenhagen, Krakau, München und Nürnberg auf beeindruckende Weise erweitert. Damit kann die Verfasserin sowohl auf Briefe als auch vielfach auf von Borgia selbst verfasste Schreiben zurückgreifen. Auf dieser Basis zielt sie darauf "Kommunikationsstrukturen und die Funktionen" zu verfolgen, die "Auskunft geben über Kommunikationsmöglichkeiten und -standards in der europäisch-christlichen Gelehrtenrepublik, der Respublica litteraria." (12) Stuiber konzentriert sich dabei auf das Distanzmedium Brief und nimmt sich des Briefschreibens als gelehrte Praxis an. In einer umfangreichen Einleitung geht sie dem Begriff "gelehrt" aus deutsch-italienischer Perspektive nach. Damit gibt sie einen Rahmen vor, innerhalb dessen sie Stefano Borgia als Gelehrten verortet und ihn in ständiger Wechselbeziehung mit einer rigide gezeichneten, fast hermetisch wirkenden res publica litteraria setzt, die in der evozierten panegyrisch anmutenden Form über wenig Aussagekraft verfügt. Es folgen methodische Überlegungen zum Medium Brief sowie ein Überblick "[z]um Theorieangebot der soziologischen Netzwerkkonzepte" bevor ein knapper Forschungsüberblick zum gelehrten Briefwechsel im 18. Jahrhundert allgemein sowie zu demjenigen Borgias im Speziellen vorgestellt wird. Dem Leser wird damit ein Kriterienapparat an die Hand gegeben, wonach die Entscheidung der Verfasserin für die Zuordnung der ausgewählten Briefe in die Kategorie "gelehrte Korrespondenz" zwar transparent, doch nicht immer nachvollziehbar erscheint, zumal darunter bereits die Erwähnung eines Buchgeschenks subsummiert wird. Die wiederholte Erwähnung des Wortes "privat" in Verbindung mit "gelehrt" trägt darüber hinaus zu einer weiteren Ausdehnung bei, die dem Leser nahe legt, all das als "gelehrt" anzunehmen, das nicht (zwingend) amtlich ist.
Der Einleitung schließt sich das zweite von insgesamt sechs Kapiteln an. Es ist Borgias Biografie und seinem Nachlass gewidmet und setzt an mit der Beschreibung seines Schriftverkehrs und seiner persönlichen Verwaltung. Zeugnis von überaus guter Recherche gibt die anschließende fünfzehnseitige Erörterung des Quellenmaterials und dessen Konservierungsgeschichte. Das Kernstück des Kapitels ist ein über sechzigseitiges Unterkapitel, das sich Borgias Herkunft und Erziehung, seiner Karriere an der Kurie und seiner Tätigkeit als Gelehrter, Sammler und Mäzen detailliert annimmt, um das Bild eines kurientreuen, pflichtbewussten Gelehrten und Amtsmannes abzurunden.
Die Auswertung des Korrespondenznetzwerks erfolgt im dritten und vierten Kapitel, wobei die Verfasserin sich zuerst mit den Akteuren des Netzwerks auseinandersetzt und dabei die Bedeutung des Onkels und der durch ihn vermittelten Aufnahmen in die gelehrten Gesellschaften besonders betont. Immerhin diente er seinem Neffen geradezu als Brücke zu zahlreichen seiner Kontakte. In diesem Kontext geht Stuiber ferner Fragen des Schreibstils sowie der sich darin jeweils reflektierenden hierarchischen Position der Schreiber nach.
Ein interessantes Ergebnis dieser Auswertung ist, dass die allgemeine politische Lage in Europa und auch Borgias Exil während der französischen Besatzung Roms sich unerwartet milde auf Anzahl und Inhalt der ausgetauschten Briefe ausgewirkt hatten. Vielmehr hebt die Verfasserin den Einfluss der jeweiligen Karriereposition auf den Briefverkehr hervor, weshalb die anerkennende Betonung des globalen Netzwerks bisweilen irritiert, beachtet man, dass er die längste Zeit seines Lebens maßgeblich in der Propaganda Fide beschäftigt gewesen war. Wünschenswert wäre hier eine differenziertere Betrachtung der Interdependenz von Gelehrsamkeit und Amt gewesen, die es vielleicht erlaubt hätte, auch manche seiner gelehrten Schriften stärker zu kontextualisieren.
Die Dynamik des untersuchten Netzwerks in ihrer Abhängigkeit von Kommunikationsbedingungen und beteiligten Korrespondenten steht im Mittelpunkt des vierten großen Kapitels. Die Verfasserin kann auf reichlich Quellenmaterial rekurrieren, nicht nur um Postwege sehr präzise nachzuzeichnen, sondern auch um die mit der Versendung jeweils verbundenen pekuniären Abwägungen und Sicherheitsfragen der Akteure darzustellen.
Lesenswert sind Stuibers unter dem Punkt "Produktions- und Rezeptionsbedingungen" zusammengefasste Ergebnisse, die nicht nur auf die jeweilige Schreib- und Lesesituation hinweisen, sondern auch die Anzahl der vorgesehenen und tatsächlichen Leser thematisieren. Damit geht gerade bei einem global gespannten Korrespondentennetz die Frage nach der jeweils genutzten Sprache einher. Offensichtlich war es nicht mehr Latein und auch nicht Französisch, worauf ein gelehrtes Mitglied der Kurie Ende des 18. Jahrhunderts als erstes rekurrierte, vielmehr versuchte Borgia, wann immer es die Korrespondenzpartner erlaubten, sich des Italienischen zu bedienen.
Den Band bereichern von der Verfasserin selbst erstellte Karten sowie Tabellen und ein äußerst hilfreiches Verzeichnis der Korrespondenten und ihrer Briefe mit jeweiligem Datum. Aussagekräftig ist ferner die Auswahl edierter Briefe, die einen Einblick in die Inhalte der Korrespondenz erlauben. Mit diesem Buch liegt eine interessante Einzelstudie vor, die über die geplante Netzwerkanalyse hinaus die Formen der brieflichen Kommunikation zwischen Amt, familiären und intellektuellen Voraussetzungen und Konsequenzen aufzeigt.
Andreea Badea