Gerd Behrens: Der Mythos der deutschen Überlegenheit. Die deutschen Demokraten und die Entstehung des polnischen Staates 1916-1922 (= Die Deutschen und das östliche Europa. Studien und Quellen; Bd. 9), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2013, 749 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-631-63466-0, EUR 99,95
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Der bevorstehende 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs provoziert zahlreiche Studien, die vor allem das Kriegsgeschehen, den Zusammenbruch der Imperien und die daraus entstehenden politischen Veränderungen sowie die Formierung neuer Staatlichkeit in den Blick nehmen. Eine besondere Rolle können hierbei diejenigen Forschungen spielen, die sich auf die den Handlungen und Konzepten zu Grunde liegenden Ideen, Geschichtsbilder und Stereotypen fokussieren. Schließlich bildeten diese die Grundlagen für das Handeln der Politik im Krieg, bei den anschließenden Friedensverhandlungen und der Etablierung der Staaten.
Zu diesem Fragenkomplex gibt es noch zahlreiche Desiderate, die derzeit in neueren, teilweise noch nicht publizierten Studien insbesondere mit Blick auf den 'neuen' Nachbarn im Osten, den (wieder zu errichtenden) polnischen Staat, bearbeitet werden. Hier wäre zum Beispiel an die bereits abgeschlossenen Dissertationsprojekte von Marta Polsakiewicz zu Warschau im Ersten Weltkrieg oder von Robert Spät zur "polnischen Frage" im Deutschen Reich 1894-1918 zu denken. Insbesondere fehlen aber Studien zu den mentalen Prädispositionen für die Polenpolitik. Selbst wenn auch der Revisionismus in Bezug auf die Grenzziehungen nach dem Versailler Frieden das dominierende Element deutscher Polenpolitik war, so dürfen dessen tiefer liegende Schichten doch nicht unbeachtet bleiben. Stereotypen beeinflussten, so die Prämisse des hier anzuzeigenden Bandes, die deutsche Polenpolitik maßgeblich: Welche auf Polen bezogene Stereotypen hatten die deutschen Demokraten, die nach 1918 an die Macht gelangten, und wie wirkten sie sich auf ihr politisches Handeln aus?
Anhand dieser Leitfrage vergleicht Gerd Behrens in seiner umfang- und kenntnisreichen Studie das Polenbild von SPD, DDP und Zentrum und fragt damit nach einer möglichen Abgrenzung der dem Polenbild zugrunde liegenden Stereotypen von denen der radikalen und extremen Kräfte. Somit eröffnet das Werk in methodischer Hinsicht eine Möglichkeit, die bislang kaum in politikwissenschaftlich orientierten Forschungen eingeflossene Stereotypenforschung in Bezug auf außenpolitische Fragestellungen zu erweitern. Trotz allen Strebens nach Genauigkeit hätte die Studie - was an dieser Stelle angemerkt sei - im Sinne einer guten Lesbarkeit gestrafft werden können. So umfasst das die Methode und den Ansatz der Stereotypenforschung ausführlich darlegende zweite Kapitel rund 165 Druckseiten! Ob dies an dieser Stelle bei einer grundsätzlich umfangreichen methodisch-theoretischen Grundlage in dieser Form notwendig gewesen wäre, sei dahin gestellt.
Diese grundsätzliche Anmerkung ändert jedoch nichts am Wert dieser Studie, die erstmals die deutschen demokratischen Parteien umfassend und vergleichend in Bezug auf ihr Polenbild in den Blick nimmt. Der Verfasser sieht sie nicht nur wegen des demokratischen Charakters, sondern auch wegen ihrer innenpolitischen Kompromissfähigkeit als ein geeignetes Untersuchungsgebiet: Waren sie in außenpolitischer Hinsicht ebenso kompromissfähig? Es geht also um die Frage, ob sich diese Parteien einen Ausgleich mit Polen oder diesen Staat gar als gleichberechtigten außenpolitischen Partner hätten vorstellen können. Hieraus resultiert eine weitere Leitfrage: Waren die demokratischen Politiker Träger der im Kaiserreich weit verbreiteten Polenstereotypen, und wie setzten sie diese gegebenenfalls um? Zeitlich setzt Behrens mit dem Akt vom November 1916 ein, mit dem die Mittelmächte einen polnischen Staat halbherzig aus politischem Kalkül errichteten. Seine Betrachtung endet 1922, also zu einem Zeitpunkt, als wenigstens zwei der drei untersuchten Parteien regierten. Damit war die Etablierungsphase der Republik abgeschlossen - eine Phase, in der die gewünschte Demokratisierung mit der als Katastrophe und Schmach empfundenen Versailler Grenzziehung zusammenfiel, wodurch, so die der Studie zugrunde liegenden Hypothese, es den demokratischen Parteien unmöglich war, einen gemäßigten Standpunkt in nationalen Fragen (24) und damit im Verhältnis zu Polen einzunehmen.
Diese Annahme beruht auf der Prämisse, dass sich nationale Konflikte keinesfalls automatisch ergäben, wenn 'nationale Interessen' verletzt würden. Diese seien als gesellschaftliche Konstruktionen wandelbar und unterlägen, so Behrens, diversen gesellschaftlichen Einflüssen (25). Daher vergleicht er die offizielle Polenpolitik der demokratischen Parteien mit ihrer "inoffiziellen" Seite, als die er das der Politik zugrunde liegende Polenbild bezeichnet - es geht ihm also um einen Abgleich von Polenbild und einer von außenpolitischen Prämissen geleiteten Polenpolitik. Nach der Einleitung und der bereits erwähnten methodischen Grundlegung im zweiten Kapitel widmet sich der Verfasser den aufgeworfenen Fragen in einem in fünf größere Unterkapitel untergliederten Hauptkapitel. Deren Untergliederung erfolgt nach chronologischen Gesichtspunkten: Nach dem Verhältnis zur Polenfrage vor 1914 wird ihre Haltung für die Jahre 1916-1918 dargelegt, um dann die Jahre 1918-1922 zu untersuchen. Hierbei stehen einerseits die Grenzziehungen und die Oberschlesienfrage, andererseits das Polen- und Selbstbild sowie der seit 1848 dominante "Mythos der deutschen kulturellen Überlegenheit im Osten" und schließlich die Abwägung der "Chancen für eine deutsch-polnische Verständigung im Spannungsfeld von Identitätspolitik und Politik" im Fokus der Darstellung. Hiermit gelingt es dem Verfasser einen Spannungsbogen von den politischen Gegebenheiten bis hin zu den Wirkungen von Stereotypen auf die Außenpolitik aufzubauen.
Behrens kommt resümierend zu dem ernüchternden Schluss, dass es selbst bei den demokratischen Parteien keinen Bedeutungswandel der Stereotypen zwischen "Macht" und "Ohnmacht" (690) gegeben habe, sondern lediglich einen Wandel in der Quantität, und nicht in der Qualität, ihrer Vermittlung. Das seit Generationen tradierte Polenbild der Weimarer Parteien habe sich lediglich den Bedürfnissen der "Identitätspolitik" angepasst. Mit diesem Fazit gelingt es Behrens in überzeugender Manier, die Polenpolitik selbst der demokratischen Parteien nach 1918 in eine Kontinuität zu setzen. Die "Stereotypen langer Dauer" (Hubert Orłowski) beeinflussten also unabhängig vom politischen Lager das außenpolitische Handeln. Dieses Ergebnis ist nicht nur für die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte von Bedeutung, sondern der ihm zugrunde liegende methodische Ansatz zeigt, wie produktiv die Stereotypenforschung auch für eher politikwissenschaftlich orientierte Fragestellungen eingesetzt werden kann.
Heidi Hein-Kircher