Gerrit Hohendorf: Der Tod als Erlösung vom Leiden. Geschichte und Ethik der Sterbehilfe seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Göttingen: Wallstein 2013, 327 S., 17 Abb., ISBN 978-3-8353-1172-5, EUR 28,00
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Am 12. Februar 2014 hat sich das belgische Parlament für die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe bei Minderjährigen ausgesprochen. Bei Erwachsenen ist dort die ärztliche Tötung auf Verlangen seit 2002 erlaubt. Ist die Freigabe der Tötung (vermeintlich) autonom entscheidungsfähiger Kinder ein weiterer Schritt auf einer schiefen Ebene, an deren Endpunkt die straflose Tötung auf Verlangen auf alle Patientengruppen ausgedehnt wird?
Aus Sicht des Psychiaters und Medizinhistorikers Gerrit Hohendorf wäre eine solche Entwicklung nur folgerichtig - und zugleich hochproblematisch. Wer die Tötung auf Verlangen entscheidungsfähigen Patienten zubillige, so sein Argument, benachteilige diejenigen, die einen solchen Wunsch nicht mehr selbst äußern können, zum Beispiel Bewusstlose oder Demente. Schon aus Gründen der Gleichbehandlung dürfte dann auch diesen die aktive Sterbehilfe nicht verwehrt bleiben. Aus der selbstbestimmten würde eine fremdbestimmte Tötung, die ethisch und juristisch inakzeptabel sei. In dem hier zu besprechenden Buch warnt Hohendorf daher vor der Legalisierung jeglicher Form der Patiententötung.
Der Autor, Privatdozent am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der TU München, hat mit seiner jetzt als Buch veröffentlichten Habilitationsschrift eine Synthese seiner langjährigen Forschungen zur nationalsozialistischen "Euthanasie"-Aktion, zur Psychiatriegeschichte und zur Sterbehilfedebatte vorgelegt. Hohendorf geht zunächst auf Vorgeschichte und Verlauf des nationalsozialistischen Krankenmordes ein, um sich dann der aktuellen Diskussion über Form und Zulässigkeit ärztlicher Sterbehilfe zuzuwenden. Verbunden werden diese Abschnitte durch Überlegungen zu Aufarbeitung und Erinnerung der "Euthanasie"-Aktion sowie zur Autonomiefähigkeit (psychisch) kranker Menschen.
Hohendorf verknüpft historische und ethische Aspekte der Sterbehilfe. Die argumentative Nähe von Geschichte und Ethik birgt manche Untiefen, von denen sich der Autor fern hält, indem er das historische Argument behutsam einsetzt. Er moralisiert nicht und enthält sich vorschneller Gleichsetzungen historischer und aktueller Kontexte. Stattdessen plädiert er dafür, die nationalsozialistischen Krankenmorde "als eine Möglichkeit der Moderne" ernst zu nehmen (23) und die "Euthanasie"-Aktion nicht allein den rassistischen Vorstellungen der Nazis oder gar Hitler allein zuzuschreiben (20f.). Die Genese der staatlich organisierten Ermordung psychisch Kranker und Behinderter sei wesentlich komplexer.
Bereits das 1895 von Adolf Jost geforderte subjektive "Recht auf den Tod" enthielt zugleich eine moralische Pflicht zum Sterben für diejenigen, die aufgrund ihres Leidens nicht mehr produktiv seien und der Gesellschaft zur Last fielen (41). Hohendorf betont, dass Jost nicht nur an die sittliche Autonomie des Menschen appellierte, sondern auch utilitaristisch argumentierte. Jost zufolge wögen 999 Menschen, für die der ärztlich herbeigeführte Tod eine Erlösung sei, die verlorene Lebensfreude eines Menschen, der aufgrund einer Fehldiagnose getötet worden sei, bei weitem auf (43).
Präzise und kenntnisreich zeichnet Hohendorf die Euthanasie-Debatte in der Weimarer Republik nach, wobei er besonders auf das 1920 erschienene Pamphlet "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" eingeht, das eine starke Wirkungsmacht entfaltete. Die Autoren Binding und Hoche prägten Begrifflichkeiten, die 1938 in wörtlicher Übereinstimmung in psychiatrischen Krankenakten auftauchten und die physische Tötung der Patienten sprachlich vorwegnahmen (72). Selbst in den 1970er Jahren wurden die Lebens(un)wert-Urteile von Binding und Hoche noch zur juristischen Entlastung der Tötungsärzte herangezogen (133).
Zentrale Passagen widmet Hohendorf der "Ökonomie der Erlösung": Welche Anstaltspatienten waren zwischen 1939 und 1945 besonders gefährdet, welches Kalkül lag ihrer Ermordung zugrunde? Der Autor zieht hier seine eigenen quantitativen Untersuchungen zu den Kriterien des Selektionsverfahrens heran, die auf der Auswertung erhaltener Krankenakten beruhen. Das Ergebnis: In erster Linie bestimmten die Arbeitsfähigkeit, das Sozialverhalten sowie der notwendige Pflegeaufwand die Überlebenschancen der Patienten. Rassenideologische Kriterien, wie etwa Erblichkeit der Erkrankung, waren von nachrangiger Bedeutung (94-106). Die Relevanz der spezifischen Herrschaftsbedingungen der NS-Diktatur für die Krankenmordaktion ist demnach differenzierter zu sehen als es manche Befürworter einer liberalisierten ärztlichen Tötungspraxis heute wahrhaben wollen. Die Motive für die Patiententötungen entsprangen keineswegs allein der NS-Ideologie. Hohendorf verdeutlicht das anhand einer Umfrage, die Anfang der 1920er Jahre unter Eltern "idiotischer" Kinder durchgeführt wurde. Schriftlich befragt, ob sie der schmerzlosen Tötung ihrer Kinder zustimmen würden, sofern deren "Unheilbarkeit" ärztlich festgestellt worden sei, antwortete eine Mehrheit mit ja. Viele Eltern ließen zudem erkennen, dass sie in die Entscheidung über Leben und Tod gar nicht einbezogen werden wollten - ein Befund, den die Organisatoren der "Kindereuthanasie" 1939/40 aufgriffen, als sie das Motto "Nicht fragen, sondern handeln" entwickelten (58, 84). Der Initiator der Umfrage, der sächsische Anstaltsdirektor Ewald Meltzer, hatte demgegenüber gewarnt: "Wir kommen mit unserer ganzen Moral ins Rutschen, wenn wir auch nur die Tötung der am tiefsten stehenden Idioten bewilligen wollten." (61)
Die gesellschaftliche Ambivalenz gegenüber einem ärztlichen "Erlösungsangebot" lässt sich auch heute sozialempirisch nachweisen. Die Enttabuisierung medizinischer Tötungshandlungen hat sich jedoch aus historischer Perspektive heraus als folgenschwer erwiesen; gleichzeitig ist eine Tendenz zur Ausweitung und Entgrenzung sichtbar geworden. War bei Jost der selbstbestimmte Tod Ausgangspunkt der Argumentation, so rückten in der Folgezeit ökonomische Erwägungen in den Vordergrund - auch wenn das Bild des "Gnadentods" im öffentlichen Diskurs bestimmend blieb. Hohendorf geht nicht von einem "Imperativ der Geschichte" aus (191). Dennoch verweist er auf Strukturmomente, die seiner Ansicht nach epochenübergreifend existieren und zur Vorsicht mahnen. Dazu zählt er die Gefahr, menschliches Leben nicht als grundsätzlich schützenswert, sondern graduell abgestuft als "lebenswert" oder "lebensunwert" zu kategorisieren. Die Vergangenheit habe gezeigt, dass die Selbstbestimmung des Menschen über seinen Tod keine stabile Grenze bilde, sondern fremdbestimmte Lebenswerturteile und Tötungshandlungen nach sich ziehen könne (201). Auch ein Arzt, der einem lebensmüden Patienten zum Suizid verhelfe, bestätige damit implizit das negative Lebenswerturteil des Patienten über sich selbst. Dies gehöre jedoch nicht zu den ärztlichen Aufgaben (207).
Die inhaltlichen Bögen, die das Buch bei der Vermittlung zwischen historischer Forschung und ethischer Diskussion zu schlagen versucht, sind mitunter recht groß. Nicht immer gelingt es dem Autor, sie stringent miteinander zu verklammern. Manche These wird mehrfach vorgetragen, obwohl sie an anderer Stelle bereits abgehandelt schien. Die Darstellung des Utilitarismus gerät etwas eindimensional und dient lediglich als Negativfolie. Den positiven Gesamteindruck schmälert dies nicht. Gerrit Hohendorf hat ein lesenswertes und wichtiges Buch geschrieben, das die enge, jedoch nicht lineare Verbindung von Geschichte und Ethik im Bereich der Sterbehilfeproblematik eindrucksvoll deutlich macht.
Florian Bruns