İhsan Oktan Anar: Galîz Kahraman, Akara: İletişim Vayιnlarι 2014, 192 S., ISBN 978-975-05-1418-0
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Lorenz Korn / Eva Orthmann / Florian Schwarz u.a. (Hgg.): Die Grenzen der Welt. Arabica et Iranica ad honorem Heinz Gaube, Wiesbaden: Reichert Verlag 2008
Stephen F. Dale: The Muslim Empires of the Ottomans, Safavids, and Mughals, Cambridge: Cambridge University Press 2010
Sarah Phillips: Yemen and the Politics of Permanent Crisis, London / New York: Routledge 2011
Khalid M. Al-Azri: Social and Gender Inequality in Oman. The Power of Religious and Political Tradition, London / New York: Routledge 2013
Irene Schneider: The Petitioning System in Iran. State, Society and Power Relations in the Late 19th Century, Wiesbaden: Harrassowitz 2007
Peter Feldbauer / Jean-Paul Lehners (Hgg.): Die Welt im 16. Jahrhundert, Wien: Mandelbaum 2008
Geert Mak: Die Brücke von Istanbul. Eine Reise zwischen Orient und Okzident. Aus d. Niederländischen v. Andreas Ecke, 2. Aufl., New York: Pantheon Books 2007
Prasannan Parthasarathi: Why Europe Grew Rich and Asia Did Not. Global Economic Divergence, 1600-1850, Cambridge: Cambridge University Press 2011
Mit dem Wohlstand kam das Spießertum. [1] Das Istanbul von heute hat kaum noch etwas mit dem vor zehn Jahren zu tun. Während sich noch vor nicht allzu langer Zeit junge Leute aus der unteren Mittelschicht entspannt auf ein paar Efes auf der Straße trafen, um das Wochenende unter Freunden einzuleiten, so ist dies mittlerweile ein Bild der Vergangenheit. Viele bleiben zu Hause, der Alkohol wird immer teurer, ab 22 Uhr ohnehin nicht mehr verkauft und die exklusiven Bars und Clubs sind für viele kaum noch zu bezahlen.
Die Reformen der seit Jahren gegen die - angeblich - verwestlichte Vergnügungskultur vorgehende AKP unter Erdoğan tragen Früchte: Bereits um 2 Uhr nachts ist der Taksim fast ausgestorben, und während man sich hier bis vor kurzem noch für die bis in den Morgen reichenden Konzerte traf, schließen nun legendäre Einrichtungen wie der Jazzclub oder das Pano - man bleibt also lieber zu Hause...
Geht man abends aber dennoch aus, so spürt man eine allgegenwärtige Aggression auf der Straße, die sich immer öfter in Handgemengen und kleinkriminellen Aktionen entlädt. Die Zahl solcher Delikte steigt seit Jahren kontinuierlich, obwohl Istanbul wohl zu den am besten überwachten Großstädten der Welt gehört. Zumindest im Nahen Osten verfolgen nirgendwo mehr Kameras, mittlerweile sind es mehr als 5.500, das öffentliche Treiben ihrer Bürger. Hinzu kommt ein allmächtiger Geheimdienst und der staatlicher Überwachungsapparat, die Orwells einst düstere Zukunftsvision zur bitteren Realität machen, wie Luise Samman jüngst darlegen konnte. Denn es ist ziemlich genau nur einen Monat her, als die türkische Regierung am 17. April diesen Jahres ein neues Geheimdienstgesetz verabschiedete, welches seinen Mitarbeitern Befugnisse gestattet, die weit über das in anderen demokratischen Staaten übliche Maß hinaus gehen. "Nichts und niemand wird den türkischen Geheimdienst in Zukunft noch kontrollieren können", so die nüchterne Bilanz der Autorin. [2]
Und was von der jüngst wiedergewählten konservativen Stadtregierung nett als "urbane Verwandlung" (kentsel dönüsüm) beschrieben wird, sollte man viel eher als gezielte Gentrifizierung bezeichnen, welcher das alte Istanbul zum Opfer fällt. [3] Die über die Jahre angewachsenen illegalen innerstädtischen Siedlungen (gecekondu), welche parallel zur İstiklal Caddesi verliefen und den landflüchtigen Anatoliern billige Zuflucht garantierten, weichen nun einem Einheitsbrei aus Mittelklasse-Ghettos und riesigen Shopping-Malls (alis veris merkezleri), was zur kompletten Zerstörung der ehemals so typischen Istanbuler Nachbarschaftskultur (mahalle) führt. Früher war es völlig klar, dass die gecekondus nachts nur betreten werden sollten, wenn man auch entsprechendes Vergnügen suchte oder illegale Güter aller Art erwerben wollte. Fungierten diese Viertel sprichwörtlich als nächtliche Gegenräume zum alltäglich geordneten Istanbuler Stadtleben, müssen ihre Bewohner jetzt angesichts der enorm gestiegenen Mietpreisen in andere Gegenden ausweichen oder werden gewaltsam von der immer brutaler auftretenden Polizei zwangsenteignet. Ihre einzige Möglichkeit besteht in der Rückkehr aufs Land - doch auch hier breitet sich Wohlstand und geordnetes Leben aus und auch hierzu verpassen viele Rückkehrer den Anschluss. Und so bleibt für viele nur noch, beraubt von ihrem ehemals geduldeten Umschlagplatz, die Illegalität und Kriminalität in die Straßen Istanbuls zu tragen. Dies erkennen auch die Reichen und ziehen es deshalb vor, sich lieber ganz dem städtischen Pöbel zu entziehen, um sich auf den eigens für sie errichteten Inseln abzuschotten. Ganze Wälder opfert man gigantischen Großprojekten, in denen alptraumhafte urbane Zukunftsvisionen in Beton gegossen werden. [4]
Dies ist nun das Setting von Idris Amil Effendi, dem Helden des neuen Romans von İhsan Okray Anar. Anar, geboren 1960 in Yozgat, gehört seit längerem zu den bedeutendsten türkischen Schriftstellern der Gegenwart. Während er seine Protagonisten gewöhnlich in der Welt des Osmanischen Reiches auftreten lässt, hat er diesmal das aktuelle Istanbul gewählt, um auf nicht minder unterhaltsame Weise seinen Landsleuten kritisch einen Spiegel vorzuhalten. Galîz Kahraman ("Der ordinäre Held") erzählt die Geschichte von jenem Idris Amil Effendi, einem typischen Kasιmpaşalι, also einem, der aus dem harten Kasιmpaşa-Viertel kommt. Unbekümmert und mit einer außergewöhnlichen Intelligenz ausgestattet, schafft es Amil Effendi, jeder noch so gefährlichen und komplizierten Situation zu entgehen. Sein Ziel ist es, um jeden Preis nach oben zu kommen, und er ist - wie der Autor gleich zu Beginn des Romans seinen Leser wissen lässt - bereit, alles zu machen, um dies zu erreichen. Er besucht kreative Schreibkurse und bemüht sich, über Hooligans und Kleinganoven zu publizieren. Dabei dringt er in eine Künstler- und Intellektuellen-Szene ein, die sich in völlig nichtsagenden und weltabgewandten Diskursen verrannt hat, ohne auch nur annähernd zu begreifen, dass die Bürgerrechte, die sie gerade noch genießen, tagtäglich abgebaut werden. Schnell bemerkt Effendi, wie einfach es ist, sich in diesem Milieu zu behaupten. Es fällt ihm leicht, das weibliche Geschlecht durch lächerlich anmutende Eigenkreationen für sich einzunehmen - alles erinnert irgendwie angenehm an Werke von Charles Bukowski. Doch trotz seines Selbstbewusstseins und seiner Ausstrahlung, schafft es Effendi nie, sich wirklich durchzusetzen und sich in den gehobenen Zirkeln einen Namen zu machen. In seinem steten Scheitern ist er der klassische Antiheld. Doch plötzlich öffnet sich ihm die Tür in eine ganz andere Richtung, nämlich zur Elite der Unterwelt. Diese hatte ihn zu Beginn der Geschichte als verweichlicht und unehrenhaft abgestempelt, als er ihr stolz nachzuweisen versuchte, welche Erfolge man allein durch literarischen Diebstahl einheimsen könne. Verschiedene Umstände ermöglichen ihm nun jedoch, in diese Kreise einzuheiraten.
An diesem Punkt setzt die zweite Hälfte von Anars überzeugendem Roman ein. So machtlos die derzeitigen Parlamentarier und die gegenwärtige Opposition gegenüber einem trotz aller Skandale in der Macht gefestigten Erdoğan auch sind, dessen immer totalitärer anmutenden Entscheidungen sie oft nur noch müde abwinken, so sind es auch Idris Amil Effendi und die künstlerische Elite Istanbuls, welche die wesentlichen Nebenfiguren im Roman darstellen. Denn anstatt den Wohlstandsboom wenigstens kritisch zu beobachten und sich dessen Wurzeln bewusst zu bleiben, um nicht zu vergessen, wie die Regierung generell mit seinem eigenen Milieu und allen Gruppierungen in der Gesellschaft verfährt, die sich nicht anpassen wollen, hat auch Amil Effendi kapituliert und will einfach nur noch dazugehören.
Auf unterhaltsame Weise zieht Anar eine Bilanz der aktuellen gesellschaftlichen Zustände in der Türkei und seiner schillernden Metropole, welche einem bisher nie dagewesenen Ordnungs-und Sicherheitswahn unterworfen wird. In der Erzählung hat die kreative und etablierte Elite des Landes die Revolte verschlafen und man darf nur hoffen, dass sich die Gezi-Generation diese soziale Gruppe nicht zum Vorbild nimmt, sondern weiter aktiv die Straße für sich in Anspruch nehmen wird. Nachdem Anars 1995 erschienenes Werk Puslu Kιtalar Atlasι 2004 erstmals in die deutsche Sprache übersetzt und anschließend sehr gut besprochen wurde, [5] darf man auch für sein neuestes Werk auf eine baldige deutsche Ausgabe hoffen.
Anmerkungen:
[1] Da es im türkischen kein etymologisches Äquivalent zum deutschen Spießbürger / Spießertum gibt, ist dieser Begriff wohl am Besten mit dem umgangssprachlichen Ausdruck sosytilik für beyaz türkler zu übersetzen (Ich danke Cem Kara, München, für seine rasche Hilfe.)
[2] Luise Sammann: Das hier ist ein kompletter Geheimdienststaat, in: Hintergrund, Beitrag des DLF vom 03.05.2014, letzter Zugriff am 5.5.2014 [http://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-das-hier-ist-ein-kompletter-geheimdienststaat.724.de.html?dram:article_id=284302]
[3] Zu diesen Tendenzen lieferte Rainer Hermann unlängst einen sehr guten Überblick, siehe idem: Nach Asien in 180 Sekunden, in: FAZ, 29. März 2014, 3.
[4] "Gute" Beispiele sind etwa die Projekte wie www.mesacamlica.com und www.terracemix.com
[5] İhsan Oktay Anar: Der Atlas der unsichtbaren Kontinente, Zürich 2004.
Tilmann Kulke