Miroslav Šedivý: Metternich, the Great Powers and the Eastern Question, Pilsen: University of West Bohemia 2013, 1033 S., Kostenfrei abrufbar unter: http://metternich.zcu.cz, ISBN 978-80-261-0223-6
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Diese Prager Habilitationsschrift [1] fügt sich ein in die großen und traditionsreichen Untersuchungen zur Geschichte der internationalen Politik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (z.B. Charles Webster, Henry Kissinger, Paul W. Schroeder, Matthias Schulz); ihr Thema ist eng verbunden mit der Entstehung, Funktionsweise und Ausgestaltung der sogenannten Pentarchie der fünf Großmächte. Sie erschließt daraus ein Problemfeld, das bisher bei der Behandlung der internationalen Beziehungen sträflich vernachlässigt worden ist: die Bedeutung der Orientalischen Frage und überhaupt die Rolle des Osmanischen Reiches im Zusammenhang mit der Gleichgewichtspolitik, welche durch die Grundsätze des Wiener Kongresses von 1815 etabliert worden war.
Der Verfasser geht nicht aus von einer großen These, welcher er dann seine ganze Argumentation unterzuordnen hätte. Im Gegenteil: Er erblickt in einem solchen Verfahren die Gefahr, voreingenommen an die Sache heranzugehen. Ihm geht es in erster Linie darum, zunächst das zu leisten, woran es bisher mangelte: Er will zur Orientalischen Frage im Horizont der Habsburger Monarchie und der Pentarchie aus den originalen ungedruckten Quellen einen neuen Kenntnisstand herstellen. Auf diesem Fundament formuliert er im Laufe der Argumentation und dann abschließend thesenhafte Aussagen, die das bisherige Geschichtswissen und -bild revidieren sollen. Es geht ihm zunächst um Rekonstruktion, nicht um Deduktion.
Deshalb erarbeitet er seine Materie konsequent aufeinander aufbauend in Teilschritten - in 31 Kapiteln von jeweils ca. 25 Seiten. Er folgt überwiegend der Chronologie, schiebt aber mehrfach Kapitel dazwischen, welche epochal übergreifenden, systematischen Zuschnitt haben (Kap. 12, 14, 22). Unermesslich akribisch stellt er die Wissensgrundlagen für ein kaum gekanntes Thema erst her.
Generell vermittelt die Studie höchst differenzierte und teilweise vollkommen neue Einblicke in die Dynamik der Mächtebeziehungen während der 1820er- und 1830er-Jahre. Der Verfasser setzt sich strenge Grenzen, um die Aufgabe, die er sich gestellt hat, überhaupt bewältigen zu können. Er hebt den Staatskanzler Metternich und das politische Handeln der Habsburger Monarchie in den Mittelpunkt seines Interesses. Mit guten Gründen lehnt er es ab, eine Gesamtgeschichte der internationalen Politik dieser Epoche aus der Sicht aller fünf Großmächte à la Schroeder neu zu schreiben; ebenso wenig will er eine Biografie des Staatskanzlers verfassen, wenn er sich mit dessen Handeln und Prinzipien beschäftigt. Erst unter dieser methodischen Selbstbeschränkung ist es ihm möglich, in nahezu erschöpfender Weise die einschlägige Archivüberlieferung zur Orientalischen Frage aus nicht weniger als vierzehn internationalen Archiven auszuwerten. Das hat bisher niemand geleistet. Im Gegenteil krankte die bisherige Forschung daran, dass zumeist die immer selben gedruckten Quellen in neuer Bewertung und Deutung zu Grunde gelegt wurden (darunter die nicht unproblematischen "Nachgelassenen Papiere" Metternichs und die kaum weniger fragwürdigen Editionen zu Castlereagh, Wellington, Palmerston, Nesselrode etc.). Selbst die gelehrte Biografie Heinrich Ritter von Srbiks stützt sich ganz überwiegend nur auf solche gedruckte Überlieferung. Dabei wurden nicht wenige Stereotype und Fehldeutungen, insbesondere was die Intentionen der Handelnden betrifft, immer weitergereicht.
Ein Wort zur Dokumentation von Forschung und Quellen ist angebracht. Der Autor folgt hier in etwa formal der Zitiermethode Schroeders, die zwei Arten der Nachweise anbietet. Wo es darum geht, die Materialbasis zu dokumentieren, aus welcher der Verfasser die Aussagen eines Abschnitts geschöpft hat, wählt er die summierende Aufzählung von Belegen. Wo er hingegen ein besonderes Zitat verifizieren muss, greift er zum Einzelnachweis. Stichproben zu gedruckten und mir verfügbaren ungedruckten Zeugnissen haben stets die Zuverlässigkeit der Nachweise ergeben.
Dem Verfasser gelingt es aufgrund einer unbestechlichen, kritischen Durchsicht der erreichbaren diplomatischen Korrespondenzen und persönlichen Schriftwechsel, zahlreiche Fehlurteile zu korrigieren. Er hält sich nicht lange auf mit methodologischen Erörterungen zur Theorie der internationalen Beziehungen, der Strukturgeschichte bzw. zu unterschiedlichen "Turns" (cultural, spacial etc.) der Geschichtsschreibung. Er erachtet auch die Auseinandersetzung, ob Metternich mehr im österreichischen oder im europäischen Interesse gehandelt habe, für fruchtlos, weil es schwer zu entscheiden sei, was tatsächlich das europäische Interesse gewesen sei: die Bewahrung eines allgemeinen Friedens, die Ausbreitung von freiheitlichen Ordnungen oder die Errichtung von Nationalstaaten.
Richtig betrachtet, wird die kluge Selbstbeschränkung des Autors zu seinem eigentlichen Kapital, denn sie erlaubt ihm eine Geschichtsanalyse von Grund auf. Er springt somit gleich medias in res und durchleuchtet die zwei Jahrzehnte, indem er sich Kapitel um Kapitel und Thema für Thema vorarbeitet und dabei die Handlungsabläufe und krisenhaften Brennpunkte auskundschaftet - unvoreingenommen, kritisch und entschieden, aber ohne jede Polemik. Šedivýs Interesse ist auf die Akteure zentriert, d.h. er fragt nach den äußerlich sichtbaren und den eigentlichen tieferen Absichten Metternichs und seiner Kollegen; er bewertet ihre Bekundungen und Handlungen danach, ob sie als taktisch, pragmatisch, doktrinär, langfristig oder rational einzuschätzen seien. Der Verfasser beschränkt sich aber nicht nur auf diese hier skizzierte personale Perspektive, sondern er orientiert seine Beobachtungen stets an dem bisherigen Kenntnisstand, welcher akribisch und gewissenhaft die einschlägige Forschung bis in ihre letzten Verästelungen hinein berücksichtigt. Šedivý konzentriert sich zwar auf Metternich und die habsburgische Politik, aber er begnügt sich dabei keineswegs mit einer engen diplomatiegeschichtlichen Betrachtungsweise, sondern er hat jeweils die Komplexität der Probleme vor Augen, d.h. er berücksichtigt auch die ökonomischen, militärischen, religiösen und begrenzt sogar die sozialen Dimensionen der Handlungsabläufe. Nicht zuletzt muss man betonen, dass Šedivý sich einem Untersuchungsfeld zuwendet, das selbst für die Geschichte des internationalen Staatensystems nur höchst bruchstückhaft, nämlich bevorzugt zwischen den Jahren 1815 und dem Höhepunkt der Kongressdiplomatie 1822/23 sowie den Jahren um 1829/30 und um 1839/40 intensiv erforscht worden ist, während beide Jahrzehnte in ihrem vollem Umfang keineswegs systematisch berücksichtigt wurden, und das bisher ganz überwiegend auch nur nach der Kenntnis der publizierten Aktenlage, kaum auf der Basis der viel reicheren archivalischen Überlieferung.
Worin liegen die zentralen Resultate?
Die Studie erweist von Grund auf die enorme Bedeutung des Osmanischen Reiches für die Habsburger Monarchie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Man kannte zwar bisher das Diktum Metternichs, wenn das eine Imperium zusammenstürze, würde das andere nachfolgen; Šedivý hat als erster bewiesen, warum und inwiefern diese Aussage zutraf. Er schließt dabei (natürlich begrenzt auf seine spezifische Problematik der Orientfrage und der Rolle des Osmanischen Reiches innerhalb der Pentarchie) eine Lücke, welche auch die österreichische Geschichtsforschung bisher immer offen gehalten hatte. Überhaupt hatte diese die Ära zwischen 1815 und 1848 eher vernachlässigt, denn es ist kein Zufall, dass die monumentale Serie "Die Habsburgermonarchie" der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in den bisher erschienenen neun Teilen nur die Epoche von 1848 bis 1918 umspannt.
Es ist ein besonderes Verdienst der Untersuchung, dass der Verfasser sich nicht auf die traditionelle Dimension der internationalen Politik beschränkt, sondern insbesondere auch die ökonomischen Interessen und die Religionskonflikte für seine Deutung verarbeitet hat.
Außerdem trägt die Studie viel dazu bei, die bisher vernachlässigte internationale Politik nach 1823 und besonders nach 1830 in ihrer Kontinuität sichtbar zu machen und zu beweisen, dass die Funktionsfähigkeit der Pentarchie sich nicht auf die frühen Jahre nach dem Wiener Kongress beschränkte, sondern permanent im Gesichtsfeld der führenden Großmachtpolitiker lag.
Man kann Šedivýs Resultate kontrastieren mit der 2009 erschienenen Habilitationsschrift von Matthias Schulz ("Normen und Praxis. Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat 1815-1860"), um festzustellen, worin seine eigentliche Leistung liegt. Schulz beansprucht, die Geschichte der internationalen Beziehungen mit einem politikwissenschaftlichen Konzept neu zu deuten. Tatsächlich fußt er aber bis 1848 lediglich auf gedrucktem Material, bevorzugt auf den Konferenzprotokollen, und das nicht zeitlich konsequent, sondern bruchstückhaft. Das heißt, er schleppt alle alten Klischees und Vorurteile ungeprüft weiter, die es bisher schon gab. Anders gesagt: Es hilft nichts, ein schönes Haus zu bauen, wenn das Fundament auf Sand ruht. Šedivý machte sich als erster und bisher einziger die Mühe, die Gesandtschaftsberichte sämtlicher fünf Großmächte über zwei Jahrzehnte hinweg systematisch zu verwerten. Es gelingt ihm erst dadurch, aus den dort ausgebreiteten Kontroversen, mitgeteilten Intentionen und Wertungen zu rekonstruieren, was die Beweggründe, Hindernisse und Winkelzüge dieser europäischen Politik waren. Schulz kennt im Prinzip diese Ebene der Politik nicht, macht aber permanent Aussagen über Ziele und Normen, als ließen sich diese allein den Konferenzprotokollen entnehmen.
Die vorliegende Studie gelangt mithin zu Erkenntnissen, welche die überkommenen Aussagen zum 'Equilibrium' der Pentarchie (Schroeder) oder zu ihrer institutionellen Verfestigung in Form eines 'Sicherheitsrats' (Schulz) grundsätzlich in Frage stellen. Auch die übliche Einteilung in einen "fortschrittlichen Westblock", vornehmlich repräsentiert durch Canning und Palmerston (Webster), und einen einflussreichen "reaktionären Ostblock" lässt sich nun nicht mehr halten. Was bisher immer grundsätzlich ignoriert wurde, hebt der Autor in der Synopse der zwei Jahrzehnte hervor: die immer wieder gelingende Kooperation der Antipoden Metternich und Canning / Palmerston.
Šedivý dekonstruiert damit etablierte Vorstellungen. Ein lebhaftes Echo wird ihm sicher sein. Indem er Zug um Zug die Arbeitsweise und die begleitenden Motive der beteiligten Mächte erstmals auf dem Feld der Orientalischen Frage systematisch durchleuchtet, liefert er zugleich Resultate für ein Urteil über das System überhaupt. Der Verzicht auf einen deduktiven - theoretischen - "Approach" erlaubt dem Verfasser eine höchst nüchterne Bilanz, welcher sich der Rezensent anschließen muss: nicht der Wille zu einem europäischen Völkerrecht zeichnet die Mächte der Pentarchie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus, sondern der Wille, jeweils ein vereintes Gegengewicht bilden zu können, wenn es galt, eine einzelne Macht in ihren mehr oder weniger imperialistischen Zielen zu zügeln. Das betraf auch die beiden "Global Player", da Russland allein als kontinentale Macht den vereinten Streitmächten der anderen vier nicht gewachsen war und England als maritime Macht gleichfalls nicht die nötigen Bodentruppen zur alleinigen Dominanz besaß.
Das neue Bild, das Šedivý von den Fähigkeiten, der Kompetenz und den Maximen des österreichischen Staatskanzlers Metternich entwirft, entspricht vollkommen der gegenwärtig im Gang befindlichen Neubewertung, für die der Verfasser immer wieder auf Alan Sked, Alan J. Reinerman oder Guillaume-André Bertier de Sauvigny rekurriert. Auch die kommende Biografie Metternichs aus der Hand des Rezensenten wird die von Šedivý vertretene Neubewertung des Staatskanzlers vollkommen bestätigen. Zu dem neuen Bild Metternichs gehört, dass dieser wohl als einziger konsequent über die Jahrzehnte hinweg Grundsätze vertrat, welche über den Horizont bloßer Interessenpolitik hinauswiesen, und eben das anstrebte, was Schroeder als moralische Quintessenz der Pentarchie für alle Beteiligten vor 1848 nachweisen wollte. Trotzdem sind wohl Vorbehalte angebracht, Metternich als singulär zu betrachten. Hier scheint sich das Problem der Generationen-Erfahrung zu stellen, also die Frage, ob die noch aus dem Ancien Régime herkommenden Politiker wie Castlereagh oder Wellington, vielleicht auch Talleyrand mit Metternich vergleichbar seien - im Gegensatz zu Canning, Palmerston, den Zaren und den französischen Königen. Aber das weist über den Rahmen der vorliegenden Studie hinaus.
Alles zusammengenommen handelt es sich bei der vorliegenden Untersuchung um eine gewaltige Leistung, welche die Kenntnis Metternichs, der österreichischen Orientpolitik und der internationalen Beziehungen in Europa zwischen dem Wiener Kongress und der Revolution von 1848 auf ein neues Fundament stellt. Wer immer sich mit dieser Epoche und diesen Dimensionen ihrer Geschichte beschäftigt, wird an dieser Studie nicht vorbeikommen.
Anmerkung:
[1] Die Philosophische Fakultät der Universität Prag hat das Habilitationsgutachten des Rezensenten ins Netz gestellt. Es skizziert und kommentiert den Inhalt jedes der 31 Kapitel en Detail und dürfte für den Spezialisten hinreichende weiterführende Informationen zu diesem Opus magnum enthalten: http://www.ff.cuni.cz/wp-content/uploads/2014/06/posudek_sedivy_siemann_2.pdf (04.06.2014).
Wolfram Siemann