Rezension über:

Dirk Götschmann / Ansgar Reiß (Hgg.): Wissenschaft und Technik im Dienst von Mars und Bellona . Artillerie und Festungsbau im frühneuzeitlichen Europa (= Veröffentlichungen des bayerischen Armeemuseums; Bd. 11), Regensburg: Schnell & Steiner 2013, 152 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-7954-2810-5, EUR 19,95
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Rezension von:
Stefan Heinz
Fach Kunstgeschichte, Universität Trier
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Heinz: Rezension von: Dirk Götschmann / Ansgar Reiß (Hgg.): Wissenschaft und Technik im Dienst von Mars und Bellona . Artillerie und Festungsbau im frühneuzeitlichen Europa, Regensburg: Schnell & Steiner 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 6 [15.06.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/06/24828.html


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Dirk Götschmann / Ansgar Reiß (Hgg.): Wissenschaft und Technik im Dienst von Mars und Bellona

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Die Diskussion, inwieweit Wissenschaft und Technik ihre Erkenntnisse dem Krieg zur Verfügung stellen dürfen oder sollen, ist nicht neu und wird aktuell im Streitgespräch um den Drohneneinsatz rege geführt. Diese moralische Komponente spielte in der Frühen Neuzeit eine eher untergeordnete Rolle - der Konnex Krieg und Wissenschaft jedoch keineswegs. Dies belegt der vorliegende Aufsatzband, der auf eine Tagung zurückgeht, die im Jahr 2012 vom Bayerischen Armeemuseum Ingolstadt und vom Institut für Geschichte der Universität Würzburg veranstaltet wurde. Als Ziel von Tagung und Publikation wurde ausgegeben, eine Schärfung des Bewusstseins für die Innovationskraft der Militärtechnik in der Frühen Neuzeit zu leisten und den Facettenreichtum des Themas herauszuarbeiten.

Bislang unterschätzte Themen in den Diskurs zu führen, ist eine Aufgabe von Sammelbänden und zugleich kein leichtes Unterfangen. Auf umfangreiche Vorarbeiten kann der Band nämlich nur bedingt bauen. Sich mit historischen Fernwaffen oder Kriegstechnik zu beschäftigen, galt wissenschaftlich zeitweise als grenzwertig, womöglich gar als latent friedensgefährdend. Der Forschungsstand zu den einzelnen Gebieten variiert entsprechend.

Im Bereich der akademischen Festungsforschung liegen inzwischen zahlreiche Abhandlungen vor, selbst wenn das Thema lange Jahre ein Schattendasein führte. Spätestens mit dem 2012 erschienen Sammelband "Festungsbau" hat sich dieses Defizit erheblich reduziert. [1] Stefan Bürgers verdienstvolle Auswertung von Festungsbautraktaten aus dem Jahr 2013 ist nur eine von vielen weiteren zentralen Arbeiten. [2] Völlig anders stellt sich die Situation bei der Erforschung historischer Geschütze dar. Wie zahlreich die Aufgaben hier noch sind, belegt Dirk Götschmanns einleitender Essay (besonders die Forschungsfragen 23ff.). Neue Forschungen in diesem Bereich sind eher die Ausnahme als die Regel - ganz im Unterschied zum englischsprachigen Raum, in dem das Thema einen höheren Stellenwert genießt, wie allein schon die umfangreiche Literaturliste im Beitrag von David Williams zeigt.

Die Annäherung an das Themenfeld gelingt anhand von neun Beiträgen. Der gewählte Untertitel "Artillerie und Festungsbau im frühneuzeitlichen Europa" führt insofern ein wenig in die Irre, da es kaum um den Festungsbau im architektonischen Sinne geht, und die meisten Beiträge sich den Angriffswaffen widmen. Explizit mit Festungen beschäftigt sich letztlich nur Bogusław Dybaś (dafür mit den wenig bekannten Anlagen in Polen-Litauen). Das sich aufschaukelnde Wechselspiel der Verbesserung von Offensive und Defensive thematisieren gleichwohl alle Autoren. Wenn es bei der Analyse der frühen Angriffswaffen teilweise sehr techniklastig zugeht, liegt das in der Natur der Sache, denn Geschütze, und die Auseinandersetzung mit ihnen, setzen eine Kenntnis von Metallurgie und kinetischer Physik voraus. Den allgemein Interessierten wird dies nur begrenzt begeistern. Die Beiträge von Ferdinand Nibler, Nicholas Hall und Josef Riederer werden also - so wichtig und informativ sie auch sein mögen - wohl eher die Spezialforschung ansprechen.

Breitere Kreise dürfte Helmut Flacheneckers Überblick über die Anfänge des Geschützwesens erreichen, exemplifiziert auf der Quellengrundlage der Würzburger Bischofschronik des Lorenz Fries. Aufschlussreich sind darüber hinaus die zusammengetragenen Nachweise zum Status und Ansehen von Büchsenmachern und Geschützgießern. Sozialgeschichtliche Fragen zu dieser Berufsgruppe zu vertiefen, dürfte eine wichtige Forschungsaufgabe darstellen. Kanonen waren schließlich eine kostspielige Investition, obwohl Preise nur selten überliefert sind: Im Jahr 1502 musste Johann V. von Nassau für zwei Feldschlangen 610 Gulden bezahlen und Pfalzgraf Ludwig konnte bei seinem Zug gegen Franz von Sickingen mit 1.475 Gulden nur für das Material der Büchsenmeister rechnen. [3]

Eine Kontextualisierung in die Wissenschaftsgeschichte liefern die beiden Aufsätze von Daniel Hohrath und Peter Plaßmeyer. Wie sehr die Kriegsführung - sei es in Form von Lehrbüchern oder Messinstrumenten - in eine Auseinandersetzung mit der Wissenschaft trat, machen beide Autoren höchst anschaulich deutlich. Ihre Bildbeispiele belegen ferner, welches Potential das Forschungsfeld - neben der Technikgeschichte - für Kulturwissenschaftler, Buch- und Kunsthistoriker bereithält. Beide Beiträge beschreiben das Phänomen des dynamischen, sich überlagernden Wissensraums in der Frühen Neuzeit, der inzwischen nicht mehr nur mit realen Orten (vorzugweise Bibliotheken) verbunden wird, sondern auch in Größen wie Herrschafts- oder Handlungsspielräumen verortet ist.

Insgesamt hätte man sich gewünscht, mehr über die Kanonen als Repräsentationsobjekte zu erfahren. In der Frühen Neuzeit sind Geschütze nicht nur Werkzeuge der Zerstörung. So schenkten die pfälzischen Thronfolger Philipp und Ottheinrich ihrem Vormund Friedrich ein Kanonenpaar, jeweils mit einem Bildnis-Relief im Stoßboden. Auch nahm nach 1500 die Häufigkeit zu, mit der sich Geschütze als bildwürdige Motive in der Kunst (Dürers 'Große Kanone' von 1518) etablierten. Prachtvoll ausgestattete Zeugbücher sind somit nicht nur als reine Bildinventare zu verstehen, sondern dokumentieren den repräsentativen Wert dieser Stücke.

Diese Hinweise sind nicht als Kritik zu verstehen, sondern zeigen auf, zu welchen Fragen die Veröffentlichung insgesamt anregt. Tagungs- und Sammelbände leben vom Zusammenspiel unterschiedlicher Beiträge, deren Synthese für einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn sorgt. Vor diesem Hintergrund bietet die mit 152 Seiten schmale, aber sehr gelungene Publikation eine lesenswerte und hochinteressante Gesamtschau mit vielen neuen Einblicken. Etwas heterogen erscheint das Abbildungsmaterial, das zwischen brillant (in den Beiträgen Götschmann, Hohrath oder Plaßmeyer) und kaum erkennbar (Beitrag Dybaś) oszilliert. Nichtsdestotrotz liefert der Band - auch für den Laien - einen hervorragenden Einstieg in ein wenig beachtetes Thema. Für den Experten bietet er zahlreiche neue Erkenntnisse, die das Bild von der Innovationskraft der Militärtechnik in der Frühen Neuzeit deutlich schärfen.


Anmerkungen:

[1] Bettina Marten / Ulrich Reinisch / Michael Korey (Hgg.): Festungsbau. Geometrie - Technologie - Sublimierung, Berlin 2012. Siehe auch die Rezensionen von Guido van Büren in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 9, http://www.sehepunkte.de/2013/09/22326.html; und von Sigrid Brandt / Nils Meyer, in: kunsttexte.de, Nr. 2, 2013, http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2013-2/brandt-sigrid--6/PDF/brandt.pdf.

[2] Stefan Bürger: Architectura Militaris. Festungsbautraktate des 17. Jahrhunderts von Specklin bis Sturm (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 176), Berlin / München 2013.

[3] Gerhard Fouquet: Krieg und Geld. Die Kosten des kurpfälzischen Kriegszuges gegen Franz von Sickingen im Jahre 1523, in: Palatia Historica. Festschrift für Ludwig Anton Doll zum 75. Geburtstag (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte; Bd. 75), hg. v. Pirmin Spieß, Mainz 1994, 287-360, hier 309; Die Rolle der Geschützgießer als Hofhandwerker am Beispiel der Residenz Ehrenbreitstein untersucht Dr. Jens Fachbach in seinem DFG-Projekt "Hofkünstler".

Stefan Heinz