Thomas Poggel: Schreibkalender und Festkultur in der Frühen Neuzeit. Kultivierung und Wahrnehmung von Zeit am Beispiel des Kaspar von Fürstenberg (1545-1618) (= Acta Calendariographica. Forschungsberichte; Bd. 6), Jena: Verlag Historische Kalenderdrucke 2013, 183 S., ISBN 978-3-941563-18-6, EUR 40,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Andreas Höfele / Beate Kellner (Hgg.): Naturkatastrophen. Deutungsmuster vom Altertum bis in die Neuzeit, Paderborn: Brill / Wilhelm Fink 2023
Marie Luisa Allemeyer: Fewersnoth und Flammenschwert. Stadtbrände in der Frühen Neuzeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007
Daniela Schulte: Die zerstörte Stadt. Katastrophen in den schweizerischen Bildchroniken des 15. und 16. Jahrhunderts, Zürich: Chronos Verlag 2020
Schreibkalender als Quelle für die Frühneuzeitforschung sind in den letzten Jahren vermehrt in den Blickwinkel wirtschafts-, sozial-, kultur- und klimahistorischer Untersuchungen geraten. [1] Je nach Interesse des zeitgenössischen Autors dominieren in diesen vorgedruckten Kalenderheften witterungsgeschichtliche Aufzeichnungen, Angaben zur allgemeinen Haushaltsführung, zu Festen im Jahreskreis oder zu anderen, mitunter sehr spezifischen Schwerpunkten. So ist diese Quellengattung in Einzelfällen selbst für die Baugeschichtsforschung von Interesse. [2] Zeitlich erstreckt sich der Gebrauch von Schreibkalendern vor allem auf die Periode zwischen 1500 und 1750.
Thomas Poggels Beitrag zur Schreibkalenderforschung baut auf seiner 2013 an der Universität Siegen approbierten Masterarbeit auf. Bei seiner Auswertung der Einträge des kurkölnischen Drosten Kaspar von Fürstenberg in insgesamt 32 Schreibkalendern kann er sich auf die Edition von Alfred Bruns aus dem Jahr 1985 stützen. [3] Poggel wendet sich aber gegen Bruns' Bezeichnung der Aufzeichnungen als "Tagebücher", da diese "zu ungenau" sei und zudem die Einträge auch die der Gattung Schreibkalender immanenten Eigenschaften aufweisen würden (12 f.). Während das Tagebuch durch seine Formlosigkeit charakterisiert sei, handle es sich bei Schreibkalendern zunächst um ein in großem Umfang produziertes Druckerzeugnis, das durch die Kalenderform den Benutzer "zu einer hohen Schreibdisziplin und bestimmten Ausdrucksformen" zwinge (38 f.).
Poggel verortet seinen Zugang im Rahmen der neueren Kulturgeschichte im Sinne von Achim Landwehr [4] und Silvia Serena Tschopp [5]. Somit steht weniger Kaspar von Fürstenberg als historisch agierende Persönlichkeit per se im Mittelpunkt, sondern sein Blick auf die Welt. Poggel interessiert in erster Linie, welchen Sinn die Schreibkalender für ihren Autor hatten und in welcher Beziehung sie zu seiner persönlichen Wahrnehmung von Zeit standen (15). Er greift dabei auf ein interdisziplinäres Methodenrepertoire zurück, von quantifizierend-statistischen Zugangsweisen bis hin zu klassisch hermeneutischen (16). Die bewusste Verquickung von Makro- und Mikroebenen sieht er dabei als "attraktiv und chancenreich", um einerseits "regionale Details aus der Alltagswelt der Frühen Neuzeit, andererseits das übergeordnete Thema Zeit" zu erfassen (17).
Nach einer konzisen, mit umfangreichen Fußnoten versehenen Darstellung des Forschungsstandes zu Ego-Dokumenten im Allgemeinen und Schreibkalendern im Speziellen (19-24) geht Poggel zunächst auf ausgewählte quellenkritische Fragen ein (25-39). Auch das "Biogramm" zu Kaspar von Fürstenberg (41-50) hat eher einführenden Charakter. Ebenso beginnt auch das Hauptkapitel zu "Zeit und Festkultur" mit einigen allgemeinen Überlegungen zum Zeitverständnis, die in einem losen Bogen von Augustinus bis Friedrich Nietzsche reichen. Ausführlicher setzt sich Poggel mit Konzeptionen über Alltag und Fest auseinander. Sie leiten auf die Detailuntersuchungen zur Wahrnehmung der Feste Weihnachten, Ostern, Karneval/Fastnacht, Neujahr und Hochzeit über, für die Poggel anhand ausgewählter Einträge Kaspars von Fürstenberg plausibel zu machen versucht, dass Feste an sich nicht immer "ein Ausbruch aus dem Alltag" waren, zumal - immer die soziale Stellung des Schreibers und den Beispielcharakter der Untersuchung im Kopf - diese Feste zwar gefeiert und begangen wurden, zeitgleich aber sowohl übliche Arbeiten und Pflichten als auch herausragende Aufgaben diese Tage Kaspars von Fürstenberg bestimmten (57). Der Informationsgehalt der Aufzeichnungen ist vielfältig, doch sind Schwerpunkte auf der Ess- und Trinkkultur sowie auf dem Austausch von Geschenken auszumachen. Für das Zeitverständnis des Autors sind insbesondere die Anmerkungen zu Neujahr interessant, zumal gerade die Jahreswende den Zeitpunkt zur Vergegenwärtigung der Zeit und zum Bilanzieren bilden kann (78). Dies tat Kaspar von Fürstenberg insbesondere dadurch, dass er das vergangene Jahr in Form eines resümierenden Eintrags, mitunter auch durch ein selbst verfasstes Gedicht, Revue passieren lässt, wobei der Dank sowie die Fürbitte an Gott im Zentrum stehen.
In einem letzten, Annex-artigen Kapitel behandelt Poggel schließlich "weitere Aspekte" zum Zeitverständnis Kaspars von Fürstenberg. Interessant sind dabei die Ausführungen zur Umstellung auf den Gregorianischen Kalender, dessen Implementierung politisch, religiös und ideologisch aufgeladen war und dementsprechend auch gemeinschaftsstiftende Elemente besaß (94). Kaspar manifestiert sich bei seinem Eintrag, den 21. bis 30. Juni 1584 auszulassen, als "obrigkeitstreuer Befehlsempfänger und überzeugter katholischer Anhänger" (96), der es unterließ, den Befehl seines Vorgesetzten, des Kölner Erzbischofs Ernst von Bayern, in irgendeiner Weise zu hinterfragen. Mangels eines Schreibkalenders im Gregorianischen Stil schrieb er seine Einträge allerdings ohne Unterbrechung fort. Dass die gedruckten Wochentage des Schreibkalenders bis zum Jahresende nicht mehr mit der neuen Datierung übereinstimmten, schien in nicht gestört zu haben.
Angesichts des Vorliegens einer Edition der Aufzeichnungen Kaspars von Fürstenberg und einer mittlerweile sehr umfangreichen Forschungsliteratur zur Quellengattung des Schreibkalenders beschränkt sich der Erkenntnisgewinn von Poggels Studie auf rund 50 kleinformatige und bibliophil bedruckte Seiten. Sein Hauptteil sowie die Tabellen und Karten im Anhang (124-149) wären wohl in einem ausführlicheren Zeitschriftenartikel besser aufgehoben und würden auf diese Weise auch ein etwas breiteres Publikum erreichen. Alternativ hätte man das Hauptkapitel zu Zeitbegriff und Festkultur durch einen Vergleich mit zeitnahen Schreibkalendern ausdehnen können, um die kulturgeschichtlichen Ergebnisse besser kontextualisieren zu können. Insgesamt aber sind Poggels Ausführungen zu Zeitverständnis und Festkultur zweifellos mit Gewinn zu lesen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa Helga Meise: Das archivierte Ich. Schreibkalender und höfische Repräsentation in Hessen-Darmstadt 1624-1790 (= Arbeiten der Hessischen historischen Kommission, N. F.; Bd. 21), Darmstadt 2002; Harald Tersch: Schreibkalender und Schreibkultur. Zur Rezeptionsgeschichte eines frühen Massenmediums (= Schriften der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare; Bd. 3), Graz 2008; Klaus-Dieter Herbst: Verzeichnis der Schreibkalender des 17. Jahrhunderts (= Acta Calendariographica - Forschungsberichte; Bd. 1), Jena 2008; Klaus-Dieter Herbst: Der Schreibkalender im Kontext der Frühaufklärung (= Acta Calendariographica - Forschungsberichte; Bd. 2), Jena 2010; Norbert D. Wernicke: Kommentiertes Verzeichnis der Schreibkalender des 16. und 17. Jahrhunderts in Schweizer Bibliotheken (= Acta Calendariographica - Forschungsberichte; Bd. 4), Jena 2012; Klaus-Dieter Herbst (Hg.): Astronomie - Literatur - Volksaufklärung. Der Schreibkalender der Frühen Neuzeit mit seinen Text- und Bildbeigaben (= Acta Calendariographica - Forschungsberichte; Bd. 5), Bremen 2012; Stefan Pongratz: Adel und Alltag am Münchener Hof. Die Schreibkalender des Grafen Johann Maximilian IV. Emanuel von Preysing-Hohenaschau (1687-1764) (= Münchener historische Studien, Abteilung bayerische Geschichte; Bd. 21), Kallmünz 2013. Ein Teil dieser Publikationen basiert auf einem Projekt, das für den Zeitraum von 2006 bis 2011 durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das Institut Deutsche Presseforschung der Universität Bremen gefördert wurde.
[2] Vgl. Helga Penz: Die Kalendernotizen des Hieronymus Übelbacher, Propst von Dürnstein 1710-1740 (= Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung; Bd. 11), Wien 2013, mit umfangreichen Informationen zur spätbarocken Ausgestaltung des Stifts Dürnstein in der Wachau (Niederösterreich).
[3] Alfred Bruns (Hg.): Die Tagebücher Kaspars von Fürstenberg, Teil 1: 1572-1599 und Teil 2: 1600-1610 (= Westfälische Briefwechsel und Denkwürdigkeiten; Bd. 8), Münster 1985.
[4] Achim Landwehr: Kulturgeschichte, Stuttgart 2009.
[5] Silvia Serena Tschopp / Wolfgang Weber: Grundfragen der Kulturgeschichte (= Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt 2007; Silvia Serena Tschopp: Einleitung, Begriffe, Konzepte und Perspektiven der Kulturgeschichte, in: dies. (Hgg.): Kulturgeschichte, Stuttgart 2008, 9-32.
Christian Rohr