Rezension über:

John Gibney: The Shadow of a Year. The 1641 Rebellion in Irish History and Memory, Madison, WI: University of Wisconsin Press 2013, XII + 229 S., ISBN 978-0-299-28954-6, USD 29,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Matthias Bähr
Institut für Geschichte, Technische Universität, Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Bähr: Rezension von: John Gibney: The Shadow of a Year. The 1641 Rebellion in Irish History and Memory, Madison, WI: University of Wisconsin Press 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 7/8 [15.07.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/07/24344.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

John Gibney: The Shadow of a Year

Textgröße: A A A

Am 22. Oktober 1641 griff der irische Adelige Phelim O'Neill zu einer ungewöhnlichen Taktik, um eine strategisch wichtige Festung in der Provinz Ulster zu erobern: Er ließ sich vom Kommandanten des Stützpunkts zum Abendessen einladen. Statt zu feiern überwältigten O'Neill und seine Begleiter ihre völlig überraschten Gastgeber. Zeitgleich versuchte eine kleine Gruppe von Verschwörern, den Sitz der irischen Regierung in Dublin zu stürmen und das königliche Waffenarsenal unter ihre Kontrolle zu bringen. Beide Ereignisse markierten den Beginn der sogenannten "Irish Rebellion" von 1641, in der zwei Gruppen um die politische Vorherrschaft in Irland kämpften, die sich - trotz in der Praxis häufig unscharfer konfessioneller Grenzen - von Anfang an offen als Konfessionsparteien verstanden: Die traditionellen gälisch-irischen und anglonormannischen Eliten Irlands, die das Rad der englischen Kolonialisierungspolitik zurückdrehen und ihre alte Macht zurückgewinnen wollten, trafen auf neuenglische und schottische "Newcomer", die von der englischen Verwaltung planmäßig angesiedelt und anschließend stark gefördert worden waren.

Es gibt wenige Ereignisse in der irischen Geschichte, die in der nationalen Erinnerungskultur des 19. und 20. Jahrhunderts so umstritten waren wie dieser Aufstand. Dabei lassen sich - stark vereinfacht - zwei konfessionell eingefärbte Extrempositionen unterscheiden: Aus protestantischer Perspektive war die Irish Rebellion der Versuch, die junge Siedlergesellschaft in Irland systematisch und mit brutaler Gewalt auszulöschen. Der irische Aufstand wurde zum Kernstück eines breiten "Massaker"-Diskurses, der sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. [1] Aus katholischer Perspektive handelte es sich um eine legitime Form von Widerstand gegen eine als rechtswidrig interpretierte Fremdherrschaft. Beide Positionen waren in den letzten fast vierhundert Jahren immer wieder Gegenstand erbittert geführter öffentlicher Debatten. In seinem 2013 erschienenen Buch arbeitet der irische Historiker John Gibney diesen publizistischen Kampf um die Deutungshoheit über die Irish Rebellion systematisch auf.

Gibney geht dabei in drei Schritten vor: In einem ersten Kapitel (20-69) zeichnet er die Entwicklung der protestantischen Historiografie und Publizistik nach. Er zeigt, dass die Irish Rebellion in diesem Diskurs konsequent und von Anfang an als "sectarian genocide" (26) interpretiert wurde. Ausgangspunkt ist dabei John Temples stark rezipiertes Buch The Irish Rebellion von 1646. Ein wichtiger Bezugspunkt Temples und der protestantischen Publizistik insgesamt waren - wie Gibney immer wieder betont - die umfangreichen Zeugenbefragungen, die unmittelbar nach dem Aufstand durchgeführt wurden. In diesen sogenannten "1641 Depositions", in denen überwiegend neuenglische Siedler zu Wort kamen, wurde das Kriegsgeschehen einseitig als protestantisches Martyrium angesichts übermächtiger Feinde interpretiert. [2] Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die Irish Rebellion insbesondere im 18. Jahrhundert zu einem für die protestantischen Eliten Irlands absolut zentralen, identitätsstiftenden Ereignis. Wie Gibney zeigt, wurde der Aufstand in der Folgezeit in relativ festen Erzählmustern als eine Art Geburtsmythos der protestantischen Nation tradiert (40, 67).

Demgegenüber beschreibt Gibney den katholischen Diskurs im zweiten Kapitel (70-114) als "reactionary" (74). Katholische Autoren arbeiteten demnach bereits seit dem 17. Jahrhundert konsequent darauf hin, die protestantische Version der Irish Rebellion zu widerlegen. Die Verschwörer von 1641 hätten versucht, den König und seine legitime Herrschaft in Irland gegen eine korrupte protestantische Oberschicht zu verteidigen. Aus dieser Perspektive galt der Aufstand als rechtmäßige Selbstverteidigung. Im 18. Jahrhundert stehen John Currys Brief Account (1747) und seine Historical Memoirs (1758) stellvertretend für das Bemühen, die Ereignisse von 1641 als "normalen", allerdings von den Neuengländern provozierten Bürgerkrieg zu interpretieren und die (angeblichen) Opferzahlen zu relativieren. Gleichzeitig wurde heftig über die entscheidenden Quellen der protestantischen Massaker-Tradition - die 1641 Depositions - gestritten, die allerdings in der Regel nur in Auszügen bekannt waren (88). An der Wende zum 19. Jahrhundert entwickelte sich die Irish Rebellion schließlich, neben dem Aufstand der United Irishmen von 1798, zum zentralen Erinnerungsort des irischen Nationalismus.

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts orientierten sich irische Historiker verstärkt an den Idealen des Historismus, insbesondere an Ranke (114). Gibney zeigt, wie die nunmehr professionell betriebene Geschichtswissenschaft sich zwar einerseits (zumindest teilweise) um eine größere Nähe zu den Quellen bemühte, die publizistischen Extrempositionen dabei allerdings nicht grundsätzlich in Frage stellte (115-150). Im Gegenteil: Die großen Kontroversen um die Irish Rebellion, die etwa von John Prendergast, James Froude und W.E.H. Lecky geführt wurden, schrieben die älteren Interpretationen letztlich fort - allerdings immer vor dem Hintergrund zeitgenössischer Konflikte wie der Home-Rule-Bewegung oder dem irischen Unabhängigkeitskrieg (insb. 131, 142).

Gerade dieses letzte Kapitel ist auf seine Art ein Meilenstein in der Geschichte der Geschichtsschreibung. Gibney hat die Kontroversen und Deutungskämpfe um ein zentrales und für die irische Erinnerungskultur bis heute wegweisendes Ereignis erstmals umfassend analysiert. Für die boomenden Forschungen zur Irish Rebellion [3] ist das Buch damit zentral. Etwas irritierend wirkt lediglich, dass Gibney die Diskussion darüber, was 1641 "eigentlich" passiert ist (hier zitiert er erneut Ranke), angesichts der Quellenlage nicht etwa zurückweist oder erkenntnistheoretisch problematisiert, sondern als offene und für die Zukunft entscheidende Forschungsfrage bezeichnet (155-158). Das ist zwar eine Anspielung auf Nicholas Cannys einflussreiches Buch Making Ireland British (2001) [4], aber in einer historiografiegeschichtlichen Arbeit hätte man sich gewünscht, dass der Autor auch darauf eingeht, ob historische "Wahrheit" überhaupt ein realistisches Ziel von Geschichtswissenschaft sein kann. Auch wenn dieser Randaspekt also kritisch zu sehen ist, kann man Gibney zu seiner absolut grundlegenden Forschungsleistung nur gratulieren. Sein Buch wird das Standardwerk zum Thema werden.


Anmerkungen:

[1] Vgl. dazu zum Beispiel Ute Lotz-Heumann: Gewaltpraktiken und ihre Diskursivierung: die irische Rebellion von 1641, in: Gewalt in der Frühen Neuzeit, hgg. v. Claudia Ulbrich u.a., Berlin 2005, 375-389.

[2] Vgl. Jane Ohlmeyer: Anatomy of Plantation: the 1641 Depositions, in: History Ireland 17 (2009), 54-56; Marie-Louise Coolahan: 'And this deponent further sayeth': Orality, Print and the 1641 Depositions, in: Oral and Print Cultures in Ireland, 1600-1900, ed. by Marc Caball / Andrew Carpenter, Dublin 2010, 69-84; Eamon Darcy et al. (eds.): The 1641 Depositions and the Irish Rebellion, London 2012. Die 1641 Depositions sind alleine schon wegen ihres Umfangs als "unparalleled anywhere in early modern Europe" bezeichnet worden (Ohlmeyer: Anatomy of Plantation, 54). Insgesamt handelt es sich um 4.000 Aussagen auf ca. 20.000 Seiten in 31 Bänden, die inzwischen über das Portal "http://1641.tcd.ie" online zugänglich sind.

[3] Vgl. zuletzt Michéal Ó Siochrú / Jane Ohlmeyer (eds.): Ireland, 1641. Context and Reactions, Manchester 2013.

[4] Nicholas Canny: Making Ireland British, 1580-1650, Oxford 2001.

Matthias Bähr